Neue Sachbücher über Afghanistan

Von Krieg und Gewalt gequält

10:34 Minuten
Der Flughafen in Kabul, Afghanistan. Gepäckstücke und Müll hängen in Stacheldrahtzäunen, die die Taliban gezogen haben.
Die Bilder vom Kabuler Flughafen gingen um die Welt. Wie konnten die Taliban das Land übernehmen? Neue Sachbücher suchen nach Antworten. © picture alliance / abaca / Selcuk Samiloglu
Von Jasamin Ulfat-Seddiqzai |
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Von sachlich-nüchtern bis zynisch-böse: Eine ganze Reihe von Sachbüchern will erklären, was im Sommer 2021 in Afghanistan geschah, als den Taliban die Machtübernahme gelang. Welche Werke lohnen sich, welche nicht?
Das weltweite Entsetzen war groß, als im Sommer 2021 innerhalb weniger Tage die bisherige Republik Afghanistan unter Präsident Aschraf Ghani zusammenbrach und die Taliban das Land übernahmen. Die Bilder vom Kabuler Flughafen mit Menschen, die von startenden Flugzeugen fielen, brannten sich ins kollektive Gedächtnis.
Auch ein halbes Jahr später ist das Land für viele immer noch ein Mysterium. Einige neue Bücher versuchen, Afghanistan zu beschreiben und zu erklären.

Persönliche Geschichten

Das einzige Buch, das der nahe liegenden Versuchung widersteht, Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban zu analysieren, ist der Band der afghanisch-stämmigen Künstlerin Nahid Shahalimi. Sie versammelt die Stimmen von 13 Frauen –Journalistinnen, Programmiererinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen –, die in kurzen persönlichen Texten Einblicke in ihr Leben und ihre Arbeit gewähren.
Sie stehen humanitären Hilfsorganisationen und Think Tanks vor, eine von ihnen hat die Handelskammer für Frauen in Afghanistan mitgegründet. So bietet das Buch eine praktische Übersicht über Frauen, die immer noch gute Kontakte ins Land haben und die Strukturen vor Ort kennen, selbst wenn die meisten von ihnen mittlerweile fliehen mussten.
Der persönliche Ton des Buchs lässt kleine, aber dennoch wichtige Beobachtungen zu. So erzählt die Deutsche-Welle-Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi, die als Kind nach Deutschland kam und hier aufwuchs, wie sie fast jeden Afghanen auf der Straße körperlich überragte, da jahrelange Mangelernährung einen Einfluss auf die Körpergröße der afghanischen Bevölkerung hatte.

Der größte Popstar des Landes

Hila Limar, im Vorstand des Vereins „Visions for Children“, erzählt von Kindern, die nicht wissen, wie sie die Frage beantworten sollen, was sie sich wünschen. Ihr Leben sei so von Verzicht und Armut geprägt, dass sie die Frage nach eigenen Wünschen völlig überfordert.
Neben diesen mutigen Frauen hat mit Aryana Sayeed auch der größte Popstar des Landes einen prominenten Platz im Sammelband. Die Sängerin, die wegen ihres modischen Auftretens manchmal mit Kim Kardashian verglichen wird, ist in die Kritik geraten, weil sie für Warlords, Kriegsverbrecher und Drogenbosse Privatkonzerte gab.
Erst kürzlich veröffentlichte ein Journalist auf Twitter eine Drohnachricht von Sayeeds Lebensgefährten und Manager, nachdem sich der Journalist kritisch über die Sängerin geäußert hatte. Sayeed ist die einzige der 13 Frauen, die nicht in diesen Sammelband über bewundernswerte Frauen hineinpasst.

Eine Analyse, die viele offene Fragen lässt

Die meisten Neuerscheinungen widmen sich nicht einzelnen Schicksalen, sondern dem großen Ganzen. Der Islamwissenschaftler Rainer Hermann, der für die FAZ hauptsächlich über Syrien und die Türkei schreibt, versucht sich auf knapp 200 Seiten daran, die Geschichte Afghanistans zu erklären. Er nimmt dabei Bezug auf Stammesfehden und Clankriege.
Den Anfang im Buch macht Alexander der Große, dessen Feldzüge auch durch Afghanistan führten. Hermann will kurze und leicht verständliche Einblicke in die afghanische Geschichte geben.
Das funktioniert zu Beginn auch sehr gut, er fasst vieles gut zusammen, ohne zu stark zu vereinfachen. In der Gegenwart angekommen, möchte Hermann aber nicht nur die Geschichte des Landes beschreiben, sondern versucht sich auch an einer Erklärung der aktuellen Lage.

Rainer Hermann: „Afghanistan verstehen – Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“
Klett-Cotta, 224 Seiten, 12 Euro.

Michael Lüders: „Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte“
C.H. Beck, 205 Seiten, 14,95 Euro.

Ahmed Rashid: „Taliban – die Macht der afghanischen Gotteskrieger“
Übersetzt von Harald Riemann und Rita Seuß, überarbeitete Neuauflage.
C.H. Beck, 491 Seiten, 16,95 Euro.

Conrad Schetter: „Kleine Geschichte Afghanistans“
Überarbeitete Neuauflage. C.H. Beck, 175 Seiten, 14,95 Euro.

Nahid Shahalimi (Hrsg.): „Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan“
Mit einem Vorwort von Margaret Atwood, übersetzt von Sven Koch.
Suhrkamp, 144 Seiten, 22 Euro.

Er meint, dass die internationale Gemeinschaft in Afghanistan in Wirklichkeit gar nicht gescheitert sei, denn diese habe dort niemals einen Staat aufbauen wollen. Es sei immer nur um die Zerschlagung al-Qaidas und die Ausschaltung Osama Bin Ladens gegangen – nicht um Nation Building. Dass es den afghanischen Staat in seiner alten Form nicht mehr gibt, sei allein Schuld der afghanischen Regierung.
Dass der Afghanistankrieg aber weit mehr war als nur eine „Capture or Kill“-Mission, ist jedem klar, der sich eingehender mit dem Thema befasst. Nicht umsonst hat es in den vergangenen Jahren zahlreiche Geberkonferenzen zur zivilen Entwicklung Afghanistans gegeben, hat die US-Regierung 2008 eine Aufsichtsbehörde für den Wiederaufbau Afghanistans eingerichtet, die in regelmäßigen Abständen Berichte zu Erfolg oder Misserfolg der Afghanistanmission verfasst.

Betrachtungen mit fadem Beigeschmack

Die Veröffentlichung dieser ursprünglich geheimen Papiere führte 2019 zum aufsehenerregenden Enthüllungsbericht der Washington Post. Seitdem sind die „Afghanistan Papers“ aus keiner ernst zu nehmenden Analyse des Afghanistankriegs wegzudenken.
Dass Hermann die Enthüllungen weder richtig erwähnt noch einarbeitet, macht seine Betrachtungen wenig brauchbar. Sätze wie „Je schwächer die Regierung wurde und je schlechter sie regierte, desto mehr Sympathie gewannen die Taliban“ bleiben zu schwammig.
Im letzten Kapitel, „Afghanische Lektionen“ rät der Autor schließlich zur Kooperation und dazu, Finanzhilfen an konkrete Bedingungen zu knüpfen, um die Taliban „zur Vernunft“ zu bringen. Dass das bisher nicht einmal mit Waffengewalt geklappt hat, ignoriert er dabei.
Im letzten Absatz des Buchs heißt es: „Scheitert Afghanistan, bedroht es den Westen – durch Terrorismus und Flüchtlinge.“ Die Gleichsetzung von Terrorismus und Flüchtlingen als Bedrohung hinterlässt einen sehr faden Beigeschmack.

Erklärungen und viel Zynismus

Michael Lüders ist als Nahostexperte dafür bekannt, in der öffentlichen Debatte auch unbequeme Positionen einzunehmen. Das hat ihm gerade in Bezug auf den Syrienkrieg den Vorwurf eingebracht, Putin-Sympathisant zu sein.
Auch sein Afghanistanbuch wirft die Frage nach den Großmächten auf: Lassen sich die Konflikte unserer Zeit vielleicht auch friedlich lösen? Kann man gerade Russland und China nicht mit einem „Dialog auf Augenhöhe“ begegnen? Afghanistan dient ihm bei diesen Fragen mehr als Anschauungsbeispiel, auch wenn er mit viel Sachkenntnis ins Thema einsteigt.
Bereits das Vorwort hat es in sich. Der Angriff auf Afghanistan als Antwort auf die Anschläge vom 11. September sei ungefähr so gerechtfertigt gewesen wie eine Bombardierung Saudi-Arabiens – oder Hamburgs. Beide Orte hätten mehr mit den Anschlägen zu tun gehabt als Afghanistan, erklärt Lüders, und stellt die rhetorische Frage, ob NATO-Auslandseinsätze überhaupt noch Sinn machten.
Lüders kritisiert die verschiedenen Afghanistankriege: den britisch-kolonialen des 19. Jahrhunderts, den sowjetischen Ende der 1970er-Jahre, den der internationalen Gemeinschaft ab 2001. Lüders behauptet, dass am Beginn all dieser Kriege stets politische Fehleinschätzungen standen, gepaart mit Unwissenheit und Ignoranz gegenüber der einheimischen Kultur und Bevölkerung.

Frauenverachtende Warlords

Doch Lüders Buch ist zynisch, er bemüht sich oft gar nicht um einen sachlichen Ton. Teilweise kann man das verstehen, denn die Einzelheiten, die Lüders beschreibt, sind grausam, oft menschenverachtend. Er benennt Massaker und Kriegsverbrechen, die besonders in der Phase des Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren von allen afghanischen Kriegsparteien begangen wurden.
Und er schreckt auch nicht davor zurück, der Sowjetunion und den USA Kriegsverbrechen vorzuwerfen. Lüders beschuldigt die USA, den sowjetischen Einmarsch im Jahr 1979 provoziert zu haben, um den großen Feind des Kalten Krieges in eine Art „russisches Vietnam“ zu ziehen. Als Beweis dienen ihm Aussagen des ehemaligen amerikanischen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński.
Lüders beschreibt die Taliban als frauenverachtende, grausame Warlords, aber die demokratisch gewählte Regierung Afghanistans ebenfalls nur als eine Art Mafia und Gruppe von Kriegsverbrechern und Vergewaltigern. Joe Biden wirft er vor, mit dem Abzug im August 2021 nicht wie eine Supermacht, sondern wie ein Konkursverwalter gehandelt zu haben. Das Schlimme ist: Für seine Behauptungen hat er Beweise, er kennt sich aus mit der Materie.

Showdown der Supermächte

Bei allen Unterschieden zu Rainer Hermann kommt Lüders zu einem ähnlichen Schluss: Letztendlich müsse man Afghanistan davor bewahren, erneut ein sicherer Hafen für terroristische Gruppen zu werden – und dafür müsse man die Taliban wirtschaftlich und in ihrem Kampf gegen den IS unterstützen.
Auch Lüders stellt die Frage, was man aus Afghanistan lernen kann. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von NATO-Auslandseinsätzen hat er für sich beantwortet: Sie bringen nichts.
Kriege wie den im Irak oder in Afghanistan wird es nach Lüders Einschätzung in Zukunft nicht mehr geben. Stattdessen befürchtet er direkte militärische Konfrontationen der USA mit Russland und China. Am Ende wirkt dieses Buch über Afghanistan wie ein bloßer Prolog zu Lüders eigentlichem Thema: dem Showdown der Supermächte.

Neuauflagen von älteren Standardwerken

Literatur über Afghanistan kommt nicht ohne Standardexperten aus. Neben den Autoren des Afghan Analyst Network gehören dazu auch Conrad Schetter und Ahmed Rashid, die sich in vielen Büchern über Afghanistan im jeweiligen Quellenverzeichnis finden.
Conrad Schetter ist renommierter Friedens- und Konfliktforscher, seine „Kleine Geschichte Afghanistans“ ein nüchternes Nachschlagewerk, das jetzt bereits in die fünfte Auflage geht, mit einem neuen Schlusskapitel. Der kurze und klare Stil macht das Buch auch für Laien interessant, die Struktur ist übersichtlich.
Das letzte Kapitel heißt jetzt „Das Scheitern des Westens“. Hier fasst Schetter auf wenigen Seiten die Ereignisse zusammen, die zur Machtübernahme der Taliban führten. Er lässt sich nicht auf Spekulationen ein, stellt keine großen weltpolitischen Fragen. Zum jetzigen Zeitpunkt keine Prognosen zu geben, ist wahrscheinlich die ehrlichste Option.

Zwei Bücher lohnen sich

Außerdem erscheint diesen Monat auch die Neuauflage eines weiteren Klassikers: das „Taliban“-Buch des britisch-pakistanischen Journalisten Ahmed Rashid über die Entstehung und Organisation der Taliban-Bewegung. Im Jahr 2000 war Rashid der erste, der über diese bis dahin obskure Guerilla-Gruppierung schrieb und deswegen lange keinen Verlag für seine Recherchearbeit fand.
Die Anschläge vom 11. September machten sein Buch jedoch schnell zum Bestseller. Rashid hält sich nicht mit der Geschichte Afghanistans auf, sein Buch beginnt im Gründungsjahr der Taliban, im Jahr 1994, und bleibt zum großen Teil ein Rückblick.
Die Anschläge vom 11. September 2001 werden im letzten Kapitel erwähnt, der Afghanistankrieg kommt erst auf den letzten Seiten vor, die Machtübernahme der Taliban im August 2021 nur im Vorwort.
Rashid verlagert sein Interesse mehr auf die Organisation der pakistanischen Taliban, eine Gruppierung mit gleichem Namen und Verbindungen nach Afghanistan, aber dennoch eine andere Gruppe.
Was also lesen? Wer es sachlich mag, greift zu Conrad Schetter und seiner „Kleinen Geschichte Afghanistans“. Wen der zynische Tonfall nicht stört, erfährt viel bei Michael Lüders: „Hybris am Hindukusch“.
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