Afghanistan und das Geld

Die Zeche zahlen die Ärmsten

Ein Mann hocht an einer staubigen Straße: Strassenszene in Faizabad
Bei den Hilfsgeldern gingen die normalen Bürgerinnen und Bürger in Afghanistan meist leer aus. Auch jetzt blicken sie in eine düstere Zukunft. © picture alliance / photothek / Thomas Trutschel
Ein Kommentar von Jasamin Ulfat-Seddiqzai · 04.08.2022
Ein Selbstbedienungsladen für korrupte Eliten war Afghanistan lange. Leidtragend: die Bevölkerung. Nun wollen die USA die Zentralbankreserven des Landes einbehalten. Wieder auf Kosten der einfachen Menschen, kritisiert Autorin Jasamin Ulfat-Seddiqzai.
Afghanistan und das Geld, das ist eine nicht enden wollende Geschichte. Wie die „Washington Post“ 2019 berichtete, war das Land jahrelang ein schwarzes Loch für internationale Gelder. Afghanische Politiker, Warlords, aber auch ausländische Firmen hatten es auf die Hilfsdollar abgesehen. Sie flossen so schnell aus dem Land, wie sie hereingekommen waren. Viele Hilfsprojekte existierten nur auf dem Papier. Die Leidtragenden waren die einfachen Menschen Afghanistans, bei denen das Geld nie ankam. Stattdessen finanzierte es Luxusvillen in Dubai.
Die Welt wusste wenig darüber, welche Ungerechtigkeiten sich bereits vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 im Land abspielten. Afghanischstämmige Menschen innerhalb und außerhalb des Landes verfolgten die Entwicklungen dagegen seit Jahren besorgt.
Man wusste von den „Geistersoldaten“, die nur auf dem Papier existierten, damit Generäle und andere Offizielle sich an deren Gehältern bereichern konnten. Dass die Taliban auch aufgrund der weitverbreiteten Korruption das Land wie im Handstreich erobern können würden, ahnten viele afghanischstämmige Menschen bereits seit ein paar Jahren.

Bargeldmangel nach Machtübernahme

Sobald die Taliban das Land dann tatsächlich übernahmen, kam der konstante Geldfluss sofort zum Erliegen. Die im Ausland gelagerten Zentralbankreserven des Landes wurden eingefroren. Die Leidtragenden waren wieder die einfachen Menschen. Schnell kam es zu Bargeldmangel. Menschen konnten ihr eigenes Geld nicht mehr von der Bank abheben, ohne Bargeld keine Lebensmittel kaufen. 
In der afghanischen Exil-Community wurde das Einfrieren der Staatsgelder kontrovers diskutiert. Natürlich wollte man die sieben Milliarden Dollar nicht einfach den Taliban überlassen, denn das würde ihr Regime stützen. Aber würde das Einfrieren nicht zum Kollaps der Wirtschaft führen?
Schon in den Jahren zuvor sah man im afghanischen Fernsehen Berichte über Familien, die sich Feuerholz nicht leisten konnten und deshalb im Winter ihre Häuser mit dem Verbrennen von Plastiktüten heizten. Wie würde es diesen Menschen jetzt gehen? Ist es fair, die Ärmsten für eine Entwicklung zu bestrafen, an der sie überhaupt keine Schuld tragen? 
Afghanisch-stämmige Menschen überall auf der Welt überlegten, wie man Gehälter von Polizisten, Lehrerinnen und Krankenhausmitarbeitern weiterhin auszahlen könnte, ohne den Taliban Zugriff auf die Staatskasse zu geben. Gruppen wie „Afghans For A Better Tomorrow“ schlugen vor, kleine Beträge des Staatsvermögens freizugeben und gleichzeitig hohe Kontrollen bei der Verwendung des Geldes einzuführen.

Beschlagnahmung der Staatsreserven

Dann löste eine Meldung im Februar 2022 Entsetzen aus. Das in den USA lagernde Geld, das zuvor nur eingefroren war, aber immer noch dem afghanischen Volk gehörte, sollte gar nicht mehr zurückgegeben werden. Stattdessen sollte die Hälfte des Geldes, also 3,5 Milliarden Dollar, an die Angehörigen der Opfer des Anschlags vom 11. September 2001 ausgezahlt werden. Der Rest, hieß es, könne humanitäre Hilfe für Afghanistan finanzieren. 
Viele Afghanen waren fassungslos. Man hatte doch das Staatsvermögen extra außerhalb des Landes deponiert, um es vor dem Zugriff durch Terroristen zu schützen. Nun sollte es also die Schulden von Terroristen bezahlen? Auch manche Opferfamilien sprachen sich gegen die Beschlagnahmung der Staatsreserven aus, da man die humanitäre Katastrophe Afghanistans nicht noch beschleunigen wollte.

Afghanistan ohne Zukunft

Die afghanische Community, die sich sonst nur in wenigen Dingen einig ist, kritisiert die Biden-Administration scharf. Sollen denn alle Bemühungen der letzten Jahre, alle Opfer, die Afghanen und Afghaninnen gebracht haben, umsonst gewesen sein? Soll die einfache afghanische Bevölkerung, die so wenig vom Geldsegen der letzten Jahre profitiert hat, nun schon wieder für einen Terroranschlag bezahlen, an dem kein einziger Afghane beteiligt war?
Denn, wenn man an der Entscheidung festhält, die Staatskasse aufzulösen, hat man nicht nur Afghanistans Gegenwart, sondern auch seine Zukunft aufgegeben.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai
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