Der 130 Jahre alte Grenzkonflikt
22:35 Minuten
Die US-geführte Allianz verlässt bis zum 11. September Afghanistan. Lange hatten die Taliban einen Abzug ausländischer Soldaten gefordert. Aber Frieden wird es nur geben, wenn auch der alte Konflikt mit Pakistan um die Durand-Linie gelöst wird.
Von Kabul sind es vier Stunden mit dem Auto bis in die nordöstliche Provinz Kunar. Auf der Fahrt werden die staubigen Wüsten weniger und immer mehr Grün taucht auf. Nach den gefährlichen Bergpässen der Kabul-Dschalalabad-Straße kommen wir in der grünen Provinz Nangarhar an, wo man oft Halt macht, um frischen Fisch zu essen.
Noch weiter nördlich liegt die Provinz Kunar, benannt nach dem gleichnamigen Fluss. Von der Provinz heißt es oft, sie sei so ertragreich, dass sie ganz Afghanistan ernähren könnte, wäre das Land nicht im Krieg und deshalb bitterarm und angewiesen auf Nahrungsmittelimporte.
Überall Spuren von Krieg und Gewalt
Seit 40 Jahren herrscht nun Krieg in Afghanistan. Zeichen dafür gibt es auch entlang der Strecke: Es geht vorbei am Grab von Mullah Borjan, jenem Taliban-Führer, der 1996 die Eroberung Kabuls befehligte, die zur fünfjährigen Herrschaft der Taliban bis zum Einmarsch der US-geführten Allianz 2001 führte.
Noch weiter in der Provinz Nangarhar befindet sich der Distrikt Khewa, der im Mai 2020 zum Schauplatz eines Massakers wurde. Damals sprengte sich ein Selbstmordattentäter während einer Beerdigung, die von vielen Militärs und Polizisten besucht wurde, in die Luft und tötete mindestens 32 Menschen. Die Bilder von den Schuhen und Sandalen der Opfer machten weltweit die Runde. Ob Taliban oder die IS-Terrormiliz dafür verantwortlich sind, wurde nie geklärt.
Es gibt praktisch kaum einen Ort im Land, der nicht von Gewalt heimgesucht wurde. Egal, wie schön und friedvoll er anfangs erscheint. Dies ist auch in Kunar der Fall. Seit Jahrzehnten wird die Provinz mit Extremismus, Gewalt und Krieg assoziiert. Dies hat mehrere Gründe. Einer davon ist die Tatsache, dass Kunar an der pakistanischen Grenze liegt, entlang der Durand-Linie.
Ein Brite teilt die Paschtunengebiete
Die koloniale Grenze wurde im Jahr 1893 von den Briten und vom damaligen Emir von Afghanistan abgesegnet: Abdur Rahman Khan kam 1890 erst dank der Britischen Krone in Kabul an die Macht und zeigte sich erkenntlich, indem er dem Deal zustimmte, der die Grenzen zwischen seinem Reich und dem Imperium definierte. Die Briten wollten nach verlorenen Kriegen und ständigen Aufständen Ruhe in der Region.
Diese Grenze, benannt nach dem Hauptarchitekten des Vertrags, dem britischen Diplomaten Sir Mortimer Durand, verlief allerdings, ähnlich wie andere Kolonialgrenzen, durch die Gebiete zahlreicher Völker und Stämme. Sie wurde auf dem Papier gezogen – ohne Rücksicht auf die Menschen vor Ort. Betroffen waren vor allem jene paschtunischen Stämme, die in dieser Region seit Jahrhunderten lebten und geografische Grenzen oder die Idee eines Nationalstaates nicht kannten. Von einem Tag auf dem anderen wurden die Menschen von einer unsichtbaren, nahezu unüberwindbaren Mauer getrennt.
Während die eine Seite von nun an im Reich des Emirs lebte, musste sich die andere Seite dem Willen der britischen Kolonialisten vollständig unterwerfen. Eine Folge: Tausende von Paschtunen wurden von den Briten zwangsrekrutiert und mussten deren Konflikte, meist als Kanonenfutter und teils sogar gegen ihre eigenen Stammesmitglieder auf der afghanischen Seite, mittragen. Hinzu kamen Vertreibungen sowie eine gegenseitige Entfremdung.
Staatsgründung Pakistans manifestiert Durand-Linie
Doch einige Jahrzehnte später, im August 1947, entstand ein neuer Staat in der Region: Pakistan spaltete sich von Indien ab, nach dem Rückzug des Empires. Die Gebiete entlang der Durand-Linie wurden als Teil des neuen Nationalstaates betrachtet.
Paschtunische Nationalisten auf der anderen Seite – in Afghanistan – träumten weiterhin von einer Vereinigung und forderten die Rücknahme der Gebiete. Dieser Konflikt existiert bis heute – auch in der Provinz Kunar, wo mehr als 90 Prozent der Menschen Paschtunen sind und der Nachbar Pakistan zum Teil wie eine Kolonialmacht agiert. Regelmäßig beschießt Pakistan die afghanische Provinz mit Raketen – teilweise Tausende Raketen pro Jahr.
Der offizielle Grund: Extremistische Gruppierungen, allen voran die Taliban, werden durch die Beschüsse bekämpft und geschwächt. Die Extremisten agieren sowohl in Pakistan als auch in Afghanistan. Allerdings wird zwischen den afghanischen Taliban – Islamisches Emirat Afghanistan – und den pakistanischen Taliban – Tehrik-e Taliban Pakistan – unterschieden.
Afghanische Zivilisten Opfer pakistanischer Raketen
Viele Afghanen sehen in den pakistanischen Raketen allerdings keine Extremismusbekämpfung, sondern Machtdemonstrationen und Staatsterror. Die Raketen treffen in den meisten Fällen afghanische Zivilisten.
Jemand, der solch einen Angriff überlebt hat, ist Mohammad Yunus. Das Haus seiner Familie im Dorf Turkh Aab wurde Ende 2013 zum Ziel der Raketen.
"Die Raketen trafen genau unser Haus. Fünf Kinder wurden bei dem Angriff getötet: meine zwei Brüder, meine Schwester und zwei Cousins."
Osman, Nafisa, Abbas, Ismael und Abedullah. So hießen die Kinder, die an jenem Tag ihr Leben verloren. Doch seit ihrem Tod hat niemand nach ihnen gefragt. Weder die Regierung von Hamid Karzai, die damals an der Macht war, noch der gegenwärtige Präsident Ashraf Ghani.
Stattdessen nahm die Gewalt entlang der Durand-Linie zu. Pakistanische Raketen flogen weiterhin und sie vertrieben in erster Linie jene Afghanen, die nahe an der Grenze lebten. Die ist auch bei Mohammad Yunus' Dorf der Fall. Es liegt im Distrikt Marawara, rund einen Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt.
"Wir wurden vor zwei Tagen wieder angegriffen. Die Raketen töteten keine Menschen, sondern unser Vieh. Angriffe finden allerdings weiterhin statt."
Raketenangriffe auf Provinzhauptstadt Asadabad
Derartige Berichte hört man nicht nur aus Marawara, sondern aus allen Distrikten, die nahe der Grenze liegen. Vor Ort findet man oftmals verlassene Ruinen vor: Häuser, die nach den Angriffen zurückgelassen worden. Hinzu kommt, dass nicht nur abgelegene Dörfer zum Ziel der Raketen werden. Manchmal trifft es auch das Zentrum der belebten Provinzhauptstadt Asadabad.
Ezatullah Safi führt ein kleines Geschäft in der Innenstadt. Er hat nicht nur Raketenangriffe auf den Basar erlebt, sondern auch auf sein eigenes Haus. Im Juli 2020.
"Mein Haus wurde von pakistanischen Raketen bombardiert. Sie haben einen Teil meines Hauses, in dem sich meine Waren befanden, vollständig zerstört. Die Frau meines Bruders wurde bei dem Angriff getötet."
Insgesamt schlugen an jenem Tag mindestens elf Raketen ein. Auch Safis Nachbar wurde durch den Angriff getötet. Mehrere weitere Menschen, darunter auch Safis Brüder, wurden verletzt. Einer von ihnen wurde in einem Krankenhaus in Kabul behandelt.
"Die Regierung hat uns nach dem Angriff geholfen. Dank des Generalstabschefs der afghanischen Armee wurde einer meiner schwer verletzten Brüder im Militärkrankenhaus in Kabul behandelt, obwohl es sich bei ihm um einen Zivilisten gehandelt hat. Er wurde von mehreren Ärzten behandelt und musste zwei, drei Mal operiert werde."
Afghanistans Regierung kann nur verbal antworten
Einige Tage nach den Angriffen reiste Hamdullah Mohib, der Nationale Sicherheitsberater der Kabuler Regierung, nach Kunar und reagierte auf die jüngsten pakistanischen Angriffe mit markigen Worten im afghanischen TV-Sender TOLOnews:
"Unser Feind Pakistan sollte wissen, dass wir jeden Zentimeter unseres Landes verteidigen werden. Falls er denkt, dass er einfach Raketen abfeuern kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, dann ist das ein Traum, ein Wunschgedanke."
Doch die Reaktion der afghanischen Regierung war lediglich verbaler Natur. Rund 130 Jahre nach der Unterzeichnung des Durand-Vertrages ist Afghanistan ein schwacher Staat, der sich gegen derartige Angriffe nicht wehren kann.
Währenddessen gehört Pakistan zu den größten Militärmächten Asiens, besitzt Atomwaffen und hat ein Machtmonopol, welches mit jenem Kabuls gar nicht vergleichbar ist. Viele Afghanen in Kunar wie der Ladenbesitzer Ezatullah Safi meinen, dass dies kein Zufall sei, sondern die gewollte Politik Islamabads: "Pakistan ist unser Erzfeind."
Durand-Linie führt zu Polarisierung
Aber woher kommt diese Feindschaft? In den 1970er-Jahren trat Mohammed Daoud Khan, der erste Präsident Afghanistans, mit entschieden nationalistischen Tönen gegen Pakistan auf. Khan, der 1973 seinen Vetter Mohammed Zahir Shah, den letzten König des Landes, mittels eines unblutigen Putsches abgesetzt hatte, rollte die Durand-Thematik wieder auf und fachte damit vor allem die patriotischen Gefühle innerhalb der Paschtunen Afghanistans an. Sie machen etwa 40 Prozent der afghanischen Bevölkerung aus.
Pakistan reagierte daraufhin, indem es militante Islamisten in Afghanistan für einen möglichen Putsch gegen Daoud trainierte. Daraus wurde allerdings nichts. Andere Akteure waren mit ihrem Putsch schneller. Im April 1978 riefen die afghanischen Kommunisten eine "Revolution" aus. Sie ermordeten Daoud und dessen gesamte Familie und errichteten daraufhin ihr Schreckensregime. In wenigen Monaten wurden Zehntausende von Afghanen, darunter Intellektuelle und religiöse sowie politische Führer, von den Kommunisten gejagt und ermordet.
Doch auch die kommunistischen Regimes in Kabul spielten mit dem paschtunischen Nationalismus und erklärten Pakistan, das mittlerweile die aufständischen Mudschahedin-Rebellen gemeinsam mit den USA, Saudi-Arabien und anderen Staaten unterstützte, zum Feind.
Die Taliban kontrollieren Kunar
Heute befindet sich Afghanistan zum Teil in einer ähnlichen Position. Der Platz der Mudschahedin wurde vor Jahren von den Taliban übernommen, denen eine ähnliche Nähe zu Pakistan und dessen Geheimdienst ISI vorgeworfen wird.
Auch in mehreren Regionen Kunars haben die Taliban das Sagen, sagen mir Einwohner wie Sher Agha: "Dieses Gebiet wird von den Taliban kontrolliert. Seit fast drei Jahren ist das so. Die Regierung hat die Kontrolle verloren. Hinter der Straße beginnt ihr Einflussgebiet."
Während Sher Agha im Auto sitzt, zeigt er auf einige Berge und Hügel – Terrain, in denen sich die Extremisten immer wieder festsetzen. Auseinandersetzungen zwischen der afghanische Armee und den Taliban gehören auch in Kunar zum Alltag. Die US-Soldaten sind aus der Provinz nach verlorenen Gefechten schon lange abgezogen. Bekannte Schauplätze des Guerillakampfes waren das Pech-Tal sowie das Korengal-Tal. Über die beiden Täler wurden in den letzten Jahren Bücher und Filme produziert. Im Laufe der Jahre wurden die Militärbasen abgebaut und verlassen. So wird es im ganzen Land ebenfalls kommen.
Abzug der US-Soldaten bis zum 11. September
Ende Februar 2020 wurde im Golfemirat Katar ein Abzugsdeal zwischen den Taliban und der Trump-Administration unterzeichnet. Seither finden praktisch keine Gefechte zwischen Aufständischen und US-Soldaten statt.
Die frisch gewählte Biden-Regierung hat nun die schwierige Aufgabe, den Deal mit den Taliban zu wahren und den von Trump begonnen Abzug fortzusetzen. Aktuell sind noch 2500 US-Soldaten und 7000 weitere ausländische Soldaten der Nato-Koalition in Afghanistan stationiert. Bis zum 11. September – 20 Jahre nach den Anschlägen – sollen alle Truppen das Land verlassen haben, heißt es aus der US-Regierung.
Eine Forderung der Taliban für den Verbleib am Tisch bei den Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung. Nach mehreren Gesprächsrunden in Katar und Russland soll die nächste in der Türkei stattfinden.
Konflikt um Durand-Linie muss gelöst werden
Die Situation in Kunar macht allerdings deutlich, dass es in Afghanistan um weit mehr als um aktuelle Konflikte geht. Die Thematik rund um die Durand-Linie zeigt, wie viel verbrannte Erde die einstigen Kolonialisten in dieser Region der Welt hinterlassen haben. Es ist deshalb wichtig, dieses blutige Vermächtnis nicht zu ignorieren oder zu verdrängen.
Eine konstruktive, ernstzunehmende Lösung ist notwendig. Andernfalls kann auch in den nächsten 130 Jahren von einem dauerhaften Frieden keine Rede sein.