Was ist ein Frauenleben wert?
Am 19. März 2015 wurde eine 27-Jährige in Kabul von einem wütenden Mob auf offener Straße zu Tode gefoltert - weil sie angeblich Seiten aus dem Koran verbrannt habe. Mehrere hundert Schaulustige beobachteten die Szene, doch niemand half. Der Fall zeigt, wie prekär die Lage der Frauen in Afghanistan nach wie vor ist.
Farkhundas Mörder waren keine Taliban. Sondern Männer aus der Mitte der Gesellschaft. Wie konnte das passieren? Warum musste Farkhunda sterben? Rund 2000 Demonstranten zogen im März 2015 vor den Obersten Gerichtshof Afghanistans in Kabul. Sie suchten Antworten auf die verstörenden Fragen, die sie beschäftigten.
"Ich bin hier, weil ich dieses unmoralische und unmenschliche Verbrechen verurteile", sagte der junge Student Zorullah. Die 20-jährige Najla konnte ihre Wut und ihre Verzweiflung kaum in Worte fassen:
"Für mich gehört es zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheit. Es waren doch Polizisten vor Ort. Mehrere hundert Menschen schauten zu und filmten den Mord mit ihren Handys. Keiner half Farkhunda."
Die Polizei sah tatenlos zu
Salma trug wie viele andere bei den Protesten im März eine Maske, die das blutverschmierte, zertrümmerte Gesicht der ermordeten Farkhunda zeigte.
"Die Täter sollen öffentlich hängen. Sie sollen verbrannt werden wie Farkhunda."
(Ausschnitt Video: "Mord an Farkhunda"): "Das Unfassbare geschah am hellichten Tag des 19. März 2015. Es begann vor dem Schrein der beliebten Schah-e-Duschamschera Moschee in der Altstadt von Kabul. Eigentlich ein friedlicher Ort. Hier sind immer viele Menschen unterwegs, um die Taubenschwärme zu füttern, die sich rund um die Moschee angesiedelt haben.
Es heißt, dass Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man die Tauben verwöhnt. Doch an diesem Märztag war alles anders: Ein Mullah setzte die Lüge in die Welt, dass eine junge Frau namens Farkhunda Malikzada Seiten aus dem Koran verbrannt habe. Augenzeugen berichten später, dass der Mullah und die 27-jährige Farkhunda unmittelbar vor dem Mord heftig miteinander gestritten hatten. Die bloße Anschuldigung des Mullahs reichte, um den Mob zu entfesseln."
Dutzende herbeigelaufene Männer traten plötzlich wie von Sinnen auf Farkhunda ein. Sie schlugen sie mit Brettern und Eisenstangen. Sie steinigten sie und zogen sie durch die Straße. Mehrere hundert Schaulustige rotteten sich zusammen, während viele Polizisten tatenlos rumstanden. Am Ende der grausamen Folter brannte Farkhundas Körper im trockenen Bett des Kabul-Flusses in der Nähe der Moschee. Täter und Schaulustige filmten den Mord mit ihren Handys und stellten die Clips ins Netz. Einige riefen Allah-u-akbar - "Gott ist groß".
Die Täter waren "normale" Bürger, keine Taliban
Die Tat war nicht geplant. Es war ein spontaner Gewaltausbruch, den offenbar viele guthießen. Die Mörder waren junge und alte Männer. Männer in moderner westlicher Kleidung und Männer in traditioneller afghanischer Kleidung. Es waren Bürger der afghanischen Hauptstadt Kabul. Die Tat führte zu tagelangen Protesten, an denen mehrere tausend Menschen teilnahmen, darunter viele junge Frauen wie Frozan:
"Ich kann und will einfach nicht glauben, dass es solche Menschen in meinem Land gibt, die eine unschuldige Frau hier in der Hauptstadt ohne jeden Beweis derart brutal hinrichten."
Die Demonstrationen für Farkhunda haben gezeigt, dass es neben dem Mob auch eine kleine, heranwachsende, kritische Zivilgesellschaft gibt. Am Ort des mörderischen Anschlags auf Farkhunda entsteht ein Ort der Erinnerung. Es gab auch dutzende Verurteilungen vor Gericht.
Dennoch wirft Farkhundas öffentlicher Tod mitten in der afghanischen Hauptstadt ein Schlaglicht auf das Leben der Frauen in Afghanistan. Auf die Macht und auf den Missbrauch der Religion. Auf den schwachen Staat. Auf das schwelende, männliche Gewaltpotenzial in der Gesellschaft. Auf den Wert eines weiblichen Lebens nach fast vier Jahrzehnten Krieg und Gewalt – im Namen der Religion.
Das Versprechen des Westens bleibt uneingelöst
In ihrem Büro hadert die Vorsitzende der Afghanischen Menschenrechtskommission Sima Samar mit der Realität. Sie hält viele politische Partner des Westens in Afghanistan für Islamisten. Sie spricht von Kriegsverbrechern, die im afghanischen Bürgerkrieg der 90er-Jahre machtgierig übereinander hergefallen seien. Es war dieser Machtkampf nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen, der die Taliban an die Macht spülte. Heute sind die alten islamistischen Kriegsfürsten ein Teil des neuen Staates. Vielen geht es vor allem um den persönlichen Machterhalt und nicht den Aufbau eines starken demokratischen Staates, in dem Frauen als gleichberechtigte Menschen einen Platz haben.
"Der Westen trägt hier viel Verantwortung. Die militärische Intervention gegen das Taliban-Regime war verbunden mit dem Versprechen, für die Menschenrechte, vor allem für die Rechte der Frauen einzustehen. Wir sollten keine halben Sachen machen. Sind wir hier fertig mit den Rechten der Frau?"
Seit Beginn der militärischen Intervention des Westens vor 14 Jahren gehen Millionen Mädchen wieder zur Schule und Frauen wieder zur Arbeit. Die Müttersterblichkeit ist gesunken, es sitzen Frauen im afghanischen Parlament. Doch was sagt das wirklich aus, fragt sich Sima Samar?
"Wir sind eigentlich nirgendwo. Nirgendwo. Nehmen wir das Beispiel Gewalt gegen Frauen. Ja, wir reden heute in Afghanistan viel mehr über die Rechte der Frauen als früher. Aber was haben wir praktisch wirklich erreicht? Es gibt Fortschritte, ja, aber was bleibt wirklich von den Worten und Versprechen im Krieg? Geht es uns um gute Projektberichte? Belügen wir uns und die internationale Gemeinschaft, um uns zu beruhigen und positive Trends zu vermitteln? Wir belügen vor allem die eigene Bevölkerung. Und dann ist die Lüge in der Welt und wir führen alle in die Irre."
Achtfache Mutter mit 25
Für Qandi Gul ist diese Diskussion ganz weit weg. Ihre Familie hat sich ein winziges Lehmhaus in einem der erbärmlichen, staubigen Lager für Binnenflüchtlinge in Kabul gebaut. Qandi Gul ist nie zur Schule gegangen und wurde früh verheiratet. Die 25-Jährige hat acht kleine Kinder und ist mit dem neunten schwanger. Qandi Gul ist mit ihrer Familie aus der Provinz Kapisa nordöstlich von Kabul in die Hauptstadt geflohen.
"Bei uns gibt es heftige Kämpfe zwischen den Taliban und den Soldaten. Wenn die Taliban dein Haus wollen, hast du keine Wahl. Wenn sie dein Essen wollen, hast du keine Wahl."
Qandi Gul hat in ihrem Leben selten eine Wahl gehabt. Als Kind war sie der Besitz ihres Vaters, heute ist sie der Besitz ihres Mannes. Qandi Gul gehört zu den 1,2 Millionen Binnenflüchtlingen, die am Ende des Jahres 2015 im eigenen Land nach Schutz suchen.