"Afrika ist ein sehr viel schnellerer Kontinent als Europa"

Dominic Johnson im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Die Menschen in Afrika hätten zunehmend das Gefühl, dass "die schlimmsten Zeiten überwunden" seien, sagt Journalist und Buchautor Dominic Johnson. Derzeit entwickle sich vor allem eine selbstbewusste, kapitalkräftige Mittelschicht.
Matthias Hanselmann: Die revolutionären Bewegungen in Nordafrika überraschen die Welt. Bis vor Kurzem hatte ja noch kaum jemand mit so vehementen Freiheitsbewegungen gerechnet, quer durch die gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen. Steht aber der ganze Kontinent, steht ganz Afrika vor einem großen Sprung? Darüber sprechen wir mit Dominic Johnson, er ist Redakteur der "tageszeitung", zuständig für Afrika. Guten Tag, Herr Johnson!

Dominic Johnson: Guten Tag!

Hanselmann: Viele von uns haben in den letzten Wochen doch einigermaßen umdenken müssen, wir haben nach Tunesien, nach Ägypten, Libyen und in andere nordafrikanische Länder geschaut und uns die Augen gerieben. Die Diktatoren, die Kleptokraten und Despoten sollten verschwinden und sie sind es zum Teil sogar schon. Sie sind Autor des Buches "Afrika vor dem großen Sprung". Was sagen, was zeigen diese Entwicklungen in Nordafrika im Blick auf den ganzen Kontinent?

Johnson: Also das ist unheimlich spannend, was jetzt in Nordafrika passiert, wie Sie sagen: Die Diktatoren weichen und das ist ja etwas, was für Afrika sehr wichtig ist, dass diese alten Strukturen überwunden werden. Nordafrika war ja immer im Gegensatz zum Rest vom Kontinent so ein Hort, wo die Diktatoren sich wohlfühlen konnten, wo es noch stabil war, wo es keine Umwälzungen gab, während südlich der Sahara ja doch in den letzten 20, 30 Jahren einiges passiert ist. Im Grunde ist die Ära der Umwälzungen, die Afrika erlebt, seit einigen Jahrzehnten jetzt auch in Nordafrika angekommen.

Hanselmann: Offen gestanden, der Titel Ihres Buches, "Afrika vor dem großen Sprung", hat mich auch stutzen lassen und ich dachte, das ist aber eine steile These! Lassen Sie uns doch mal über das landläufige Bild von Afrika hier in Europa reden, das ist geprägt von Einschätzungen wie, Klischees wie Afrika ist arm, in Afrika sind Millionen Menschen vom Aidstod bedroht, Afrika ist wirtschaftlich rückständig, hängt am Tropf Europas und Europa, Asien und Amerika beuten Afrika aus. Sind ja solche Ansichten, die man immer wieder hört. Jetzt sagen Sie, der ganze Kontinent stünde vor dem großen Sprung. Woran machen Sie das fest?

Johnson: Das mache ich daran fest, dass in Afrika zunehmend dieses Gefühl selbst herrscht, die Leute haben das Gefühl, wir haben die schlimmsten Zeiten überwunden. Wir hatten Jahrzehnte Instabilität hinter uns, jetzt haben wir es irgendwie geschafft und wir können nach vorne blicken. Und wenn man sich Afrika insgesamt anguckt, zum Beispiel im Vergleich mit Indien, was ja von der Bevölkerungszahl ähnlich ist, hat Afrika die besseren sozialen und wirtschaftlichen Daten, was das Wachstum angeht, was die Armut angeht. Und es bildet sich in Afrika etwas heraus, was es vorher auf dem Kontinent so nicht gab, eine sehr selbstbewusste, auch durchaus kapitalkräftige Mittelschicht, die ihre Länder umkrempelt und die eben auch dadurch, dass die politischen Diktaturen, die es mal gab, immer seltener und schwächer werden, die dadurch dann auch die Geschicke ihrer Länder in die Hände nehmen kann und eine Modernisierung einleiten kann, die den Kontinent insgesamt voranbringt.

Hanselmann: Aber wird nicht immer noch ein Großteil der afrikanischen Länder südlich der Sahara auch von Potentaten und Diktatoren regiert, wird nicht immer noch landauf, landab die Demokratie wenn überhaupt, dann nur oft zum Schein betrieben? Wahlbetrug, Wahlbeeinflussung sind ja gang und gäbe, Diktatoren regieren nach wie vor. Was lässt Sie zu diesen positiveren Einschätzungen kommen?

Johnson: Also vor rund 20 Jahren gab es ja schon mal eine Welle von Demokratisierungen in Afrika, damals wurden die meisten Einparteienregime und Militärdiktaturen abgeschafft und durch zumindest formale Demokratien ersetzt, die, wie Sie richtig sagen, ja in Wirklichkeit keine sind, sondern jeder Präsident versucht möglichst lange an der Macht zu bleiben mit allen möglichen Tricks, dann werden die Verfassungen geändert, dann werden die Wahlen gefälscht, dann werden Oppositionelle eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht. Das gibt es natürlich alles, aber wir haben nicht mehr das, was es eben bis vor Kurzem in Nordafrika noch gab, nämlich einfach Herrscher, die es überhaupt nicht mal nötig hatten, so etwas zu tun, die einfach an der Macht waren ohne Widerspruch, ohne irgendeine Notwendigkeit, sich dem eigenen Volk zu beweisen, sondern da hat schon eine kleine Entwicklung stattgefunden, die eben damit zu tun hat, dass das, was jetzt in Nordafrika passiert, in Afrika südlich der Sahara vor 20 Jahren schon passierte. Man ist weggekommen von diesem monolithischen Einparteiensystem. Und das ist eine Situation, die Fortschritte ermöglicht. Die können noch eine Weile dauern, aber sie schaffen die Grundlagen, dass sich etwas ändern kann.

Hanselmann: Sie haben eben genannt das Entstehen einer neuen Mittelschicht. Was sind andere Tendenzen, die Sie zu diesen positiven Einschätzungen kommen lassen?

Johnson: Ja schauen Sie sich mal ein Land wie Nigeria an: Nigeria ist ja der Inbegriff der Korruption, der Brutalität, da gab es jahrzehntelang Gewaltherrschaft, es ist immer noch ein Bürgerkriegsland in Teilen, es ist weltweit bekannt durch seine Internetbetrügereien. Und niemand auf der Welt macht gerne mit Nigerianern Geschäfte, weil man immer denkt, die haben irgendwelche krummen Dinge im Schilde.

Und trotzdem ist Nigeria ein Land, was inzwischen die größten Privatunternehmen Afrikas aufgebaut hat, die Milliarden Investitionen tätigen auf dem eigenen Kontinent, und die auch im eigenen Land sehr viel verändert haben. Nigeria ist ein Land mit 140 Millionen Einwohnern, das hat sich in kürzester Zeit in die Ära des Internets, des Mobilfunks begeben, das hat wahnsinnig viel Infrastruktur aufgebaut, das pulsiert geradezu mit wirtschaftlichem Leben, und das ist eine sehr, sehr selbstbewusste und politisch unabhängige Schicht von Unternehmern, die die Gesellschaft tatsächlich führt.

Die Politik Nigerias, die ist unwichtiger geworden, deswegen ist es ja auch keine Militärherrschaft mehr, es ist sehr viel lukrativer für jemanden, in der Wirtschaft reich zu werden als in der Politik heutzutage. Die Politik wird unwichtiger, die Wirtschaft kommt nach vorne. Und so etwas sehen wir in sehr vielen Ländern, das, wo Leute hinstreben, ist das, wo man Geld verdienen kann. Und Geld verdienen kann man letztendlich nur, wenn das eigene Land nicht im Elend verharrt, wenn es nicht in absoluter Armut verharrt, sondern wenn auch der Reichtum ein bisschen ankommt, wenn neue Märkte entstehen, wenn Unternehmen überhaupt im eigenen Land zu etwas kommen können.

Hanselmann: Also ein ganz wichtiger Faktor: die aufstrebende wirtschaftliche Entwicklung?

Johnson: Das ist ein ganz wichtiger Faktor und der ist getragen hauptsächlich aus dem Kontinent selbst. Afrika ist ja kein Kontinent, der ganz viel Produkte exportiert. Er exportiert Rohstoffe, die Produkte, die er selber macht, oder die Dienstleistungen, die sind für den eigenen Kontinent und das ist zunehmend wichtig.

Hanselmann: Welche Rolle spielt eigentlich das jüngere Afrika, die junge Generation bei dieser Entwicklung? In Nordafrika sehen wir es, dass die Jungen sehr wichtig sind, auch die neuen Kommunikationsformen eine große Rolle spielen. Wie ist das in den Ländern südlich der Sahara?

Johnson: Das ist genau so, wenn nicht noch mehr. Der Bevölkerungsanteil, der ist ja in allen diesen Ländern ähnlich, die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder oder Jugendliche, die noch vor dem Einstieg ins Berufsleben stehen. Und die sind aufgewachsen in einer Zeit der Veränderung, der Unsicherheit in vielen afrikanischen Ländern.

Nehmen wir ein Land wie Ruanda, was ja auch als Modell gilt für eine rasche Entwicklung: Der Völkermord ist jetzt 17 Jahre her, das heißt, die Hälfte der Bevölkerung ist seitdem geboren. Die kennen Ruanda nicht als Land der Massaker, sondern als Land der Zukunftsorientierung, zwar aus einer sehr düsteren Vergangenheit her, aber immer mit dem Ziel, möglichst schnell nach vorne zu kommen, um eben möglichst schnell weg vom Alten zu kommen. Und das ist ein wichtiger Punkt für viele dieser Länder, sie wissen, wo sie herkommen, sie wissen, was sie hinter sich gelassen haben oder was sie noch hinter sich lassen müssen, und sie wollen das möglichst schnell machen. Afrika ist ein sehr viel schnellerer Kontinent als Europa.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Dominic Johnson, er ist Afrikaredakteur der Berliner "taz", und wir sprechen über die Entwicklung in Afrika südlich der Sahara und über sein Buch "Afrika vor dem großen Sprung".

Herr Johnson, das Jahr 2011 ist in ganz Afrika ein Superwahljahr: 20 Länder werden neue oder vielleicht auch wieder die alten Regierungen wählen. Andreas Eckert, Professor für afrikanische Geschichte an der Humboldt-Universität, mit dem wir vor Kurzem gesprochen haben, der erwartet keinerlei revolutionären Ergebnisse südlich der Sahara. Als Beispiel nannte er Uganda, wo gerade der Potentat Museveni mit 70 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde, davon zwar auch viele gefälschte, aber jedenfalls kam es nicht zu irgendeiner Art Umsturz oder friedlicher Revolution. Was meinen Sie, wie groß ist das oppositionelle Potenzial in diesen Ländern?

Johnson: Das ist nicht besonders groß, weil es nicht besonders viel bringt. Oppositionspolitiker in Afrika zu sein, ist sehr undankbar, man kommt eigentlich nirgendswohin. Es gibt ja nur wenige Länder, wo es regelmäßig demokratische Machtwechsel gibt hin von einer Partei zur anderen, es gibt auch wenige Länder mit strukturierten Parteien, die sich gegenseitig die Mehrheiten abjagen können so wie bei uns. Das gibt es eigentlich nur selten. Und die stürmische wirtschaftliche und soziale Entwicklung bringt es eben mit sich, dass die Politik unwichtiger wird.

Wer etwas erreichen will, wer ambitioniert ist, macht das nicht, indem er eine Oppositionspartei gründet und bei Wahlen antritt, das ist der sicherste Weg zum Scheitern. Wer etwas tun will und etwas erreichen will, der geht in die Geschäfte, der gründet ein Unternehmen, der stellt sich gut mit seinen Machthabern, und der expandiert über die Landesgrenzen hinaus. Das heißt, die Präsidenten, die lässt man in Ruhe, weil die reagieren sehr empfindlich, wenn man sie stört. Und dann gibt es halt ab und zu eine Wahl, darauf kommt es dann aber auch nicht besonders an. Worauf es ankommt, ist, dass zwischen den Wahlen das Land vorankommt.

Hanselmann: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es ein Ende der postkolonialen Despotie gebe in Afrika zurzeit. Was verstehen Sie da genauer drunter?

Johnson: Die postkolonialen Despotien sind einfach die Regime, die eingesetzt wurden, als die afrikanischen Staaten unabhängig wurden. Da haben ja die Kolonialmächte die Macht übergeben an afrikanische Nachfolger, und die haben dann meistens Despotien, Diktaturen errichtet. So was geht natürlich irgendwann auf natürlichem Wege zu Ende, einfach auf biologischem Wege, oder sie werden gestürzt.

Die große Welle der Stürze der postkolonialen Regime war Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Manche Länder hinkten da ein bisschen hinterher, auch weil sie später unabhängig wurden, Simbabwe ist da ein Fall, das wurde erst 1980 unabhängig, nicht 1960. Von daher ist es jetzt eher in dem Zeitraum, wo andere Länder schon vor 20 Jahren waren, nämlich wo man darauf wartet, dass der alte Machthaber, der die Unabhängigkeit erkämpfte, dass der endlich mal entweder abtritt oder stirbt, und dass dann was Neues passieren kann.

Hanselmann: Eine Sache ist mir noch wichtig, und zwar haben Sie gesprochen vorhin vom wirtschaftlichen Aufschwung in Afrika. Nun weiß man, dass Afrika wirtschaftlich ausgebeutet wird, Land Grabbing ist ein Beispiel, es werden riesige landwirtschaftliche Flächen gepachtet oder gekauft, zum Beispiel von China oder von Indien, um dann dort Monokulturen wie Mais oder Soja anzubauen. Wird Afrika es schaffen können, sich zu wehren gegen wirtschaftliche Ausbeutung von außen?

Johnson: Die wirtschaftliche Ausbeutung von außen ist ja nichts Neues. Die ganze Kolonialherrschaft war ja ein einziges Land Grabbing. Wenn man jetzt die Chinesen und Inder kritisiert, dann, die Europäer haben das hundertmal besser und vollständiger gemacht und das ist deswegen schwierig. Und damit konnten die Afrikaner irgendwann auch umgehen. Die haben irgendwann ihre Selbstständigkeit erkämpft.

Und das, was jetzt von außen an Ausbeutung kommt, geht ja nicht einher mit einem politischen Machtanspruch, man sagt ja nicht, die Afrikaner können ihre eigenen Geschäfte nicht führen, man will nur, dass sie sie führen in einer Weise, die auch uns außen was nützt. Das ist schon ein Unterschied.

Von daher geht es nicht so sehr darum, dass jetzt ein unterdrücktes Afrika seine Freiheit neu erkämpfen muss gegen irgendwelche ausländischen Ausbeuter, es geht darum, dass faire Wirtschaftsbedingungen hergestellt werden. Das ist tatsächlich ein Problem, das ist nicht einfach, das passiert nicht automatisch, dazu braucht man Regierungen, die was von der Materie verstehen, die in der Lage sind, auf Augenhöhe mit Europa, mit Asien zu verhandeln. Und das ist auch etwas, was neu ist in Afrika heutzutage, diese Bereitschaft, sich nicht nur als Opfer zu sehen, sondern als Akteur, zu sagen, wir nehmen unsere Dinge selbst in die Hand, wir warten nicht darauf, dass jemand anders was ändert. Wir verändern was und dann können wir den anderen gegenübertreten. Und diese Mentalität, die muss man hier erst noch verstehen lernen, wir haben hier immer noch sehr das Bild Afrika als Opfer, dem man helfen muss. Die Afrikaner sehen sich eher als Leute, die etwas selber gestalten wollen und die Partner suchen. Das ist ein Unterschied.

Hanselmann: Aussichten für den Kontinent Afrika von Dominic Johnson, Autor des Buches "Afrika vor dem großen Sprung". Vielen Dank!