Neue Flüchtlingsboote aus Kongo
Uganda hilft so vielen Geflüchteten wie kein anderes Land in Afrika - derzeit 1,4 Millionen. Seit Jahresbeginn kommen nun tausende Kongolesen dazu - aus Angst vor den mordenden Milizen in ihrer Heimat. Kongos Regierung soll die Konflikte schüren.
Die Oberfläche des gigantischen Sees ist spiegelglatt, Wellen plätschern ans Ufer. Der Albertsee, mitten im Herzen Afrikas, liegt an der Grenze zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Uganda. Er ist zehn Mal so groß wie der Bodensee.
Eigentlich ist diese Gegend im Westen Ugandas ein Naturschutzgebiet. Antilopen, Kühe und Büffel kommen zum Grasen und Trinken ans Ufer. Vereinzelt legen Fischer mit ihren Booten hier an. Doch seit Weihnachten vergangenen Jahres herrscht in dieser sonst so verlassenen Gegend Hochbetrieb. Über 55.000 Kongolesen haben sich seit Beginn des Jahres nach Uganda gerettet.
Die Flucht ist gefährlich. Der See hat oft hohe Wellen, die meisten Flüchtlinge können nicht schwimmen. Trotzdem landen täglich neue Boote an der Anlegestelle Sebaguru. Ugandas Regierung hat gemeinsam mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Strand eine Station eingerichtet, um die Ankommenden zu versorgen. Dort steht auch Daniel Tam vom UNHCR. Er blickt auf den See hinaus. Manchmal steigen auf der Seite Rauchsäulen auf – wenn die Dörfer dort brennen. Dann weiß Tam, dass bald wieder Flüchtlingsboote ankommen werden.
"Sebaguru ist die Hauptanlegestelle, an welcher die Flüchtlinge vom Kongo täglich ankommen. Sie fliehen vor den Kämpfen, die auf der anderen Seite stattfinden. Die meisten sind traumatisiert von dem, was sie gesehen oder erlebt haben. Wir haben immer wieder Boote, die kentern. Die letzte Katastrophe passierte vergangene Woche. Eine Familie hat sich in ein großes Boot gerettet und auch 27 ihrer Kühe aufgeladen. Das Boot war total überladen und kenterte. Die Kühe sind alle ertrunken, aber wir konnten alle Menschen retten."
Über sechs Stunden dauert die Überfahrt an das sicherer Ufer Ugandas. Die meisten Flüchtlinge sind hungrig, völlig erschöpft, wenn sie aus den Booten steigen, schleppen mühsam die Bündel mit ihren Habseligkeiten an Land: Kochgeschirr, Kleidung, einen Sack Maismehl oder eine Matratze. Meist ist das alles, was ihnen geblieben ist. Am Strand hat das Flüchtlingshilfswerk Zelte errichtet, Latrinen ausgehoben. Helfer verteilen Energiekekse und Wasser an hunderte von Menschen:
"Wir sind hier ziemlich gut organisiert. Wir haben Partnerorganisationen wie das Welternährungsprogramm, die hier Lebensmittel verteilen oder die medizinische Versorgung bereit stellen. Jeder weiß Bescheid, was er genau zu tun hat. Das funktioniert gut. Denn oft kommen große Boote an, mit bis zu 200 Menschen. Aber auch kleine mit 20 Menschen an Bord. Da müssen wir schnell reagieren, denn die Menschen leiden. Allein heute haben wir hier 582 Neuankömmlinge registriert."
Seit mehr als 15 Jahren in Kyangwali
Unter den Flüchtlingen sind sehr viele Kinder, Frauen und Alte. Auch Christine Baguma gehört dazu. Die 25-Jährige sitzt mit ihren drei Kleinkindern auf einer Bastmatte im Schatten eines Zeltes. Das Baby trinkt an der Brust. Die anderen Kinder kauen Energiekekse, gucken apathisch durch die Gegend. Sie wirken traumatisiert. Und auch der Mutter steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Sie erzählt von den Angriffen auf ihr Dorf an jenem Morgen.
"Wir kommen aus dem Dorf Joo, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Es war noch früh am Morgen. Da kamen Männer mit Macheten aus dem Wald. Sie haben angefangen zu morden, den Menschen die Gliedmaßen abzuschneiden. Dann haben sie unsere Hütten angezündet. Wir konnten gar nichts mitnehmen. Ich habe mir einfach nur die Kinder geschnappt und bin gerannt. Zum Glück haben wir die Fischerboote. So konnten wir hierher fliehen. Ich bin mir sicher, die Männer waren von der Miliz der Lendu."
Ein Reisebus hält hinter dem Zaun. Mit ihm sollen die Flüchtlinge ins Flüchtlingslager Kyangwali weiter im Süden des Landes gebracht werden. Beim Einsteigen herrscht Gedränge. Dann holpert der große Reisebus davon. Über unwegsame Straßen zur nächsten Station auf dem Weg der Flucht.
Seit über 15 Jahren leben Kongolesen in der gewaltigen Siedlung Kyangwali auf ugandischer Seite der Grenze. Die meisten sind nach dem letzten Konflikt in der kongolesischen Provinz Ituri nie in ihre Heimat zurückgekehrt. Im vergangenen Kongokrieg von 1998 bis 2003 hatten sich dort die brutalsten Massaker ereignet. Milizen der Ethnien der Hema und der Lendu kämpften um Landrechte und Ressourcen. Erst durch eine internationale Militärintervention konnten die gegenseitigen Racheaktionen 2003 letztlich eingestellt werden. Danach galt die Grenzregion entlang des Albertsees als relativ stabil. Doch jetzt brennen dort wieder die Dörfer.
In Kyangwali sind seit Beginn dieses Jahres über 55.000 Flüchtlinge eingetroffen. Das Lager ist restlos überfüllt. Der Reisebus, in dem auch Christine Baguma mit ihren drei Kindern sitzt, hält vor dem Eingangstor des gewaltigen Lagers. Sie müssen aussteigen. Über Lautsprecher werden die Neuankömmlinge über die Regeln im Lager aufgeklärt.
Konflikt spitzt sich wieder zu
Zunächst sollen sich alle die Hände waschen. Dann werden die Schuhe desinfiziert. Das Rote Kreuz bemüht sich, Infektionskrankheiten einzudämmen. Über 30 Flüchtlinge sind in Kyangwali in den vergangenen Wochen an Cholera gestorben, bis zu tausend sind infiziert. Die Flüchtlinge aus dem Kongo hätten die gefährliche Seuche angeschleppt, sagt Brian Atuyonza vom Roten Kreuz Uganda.
"Der Choleraausbruch wurde eingedämmt, doch wir vom Roten Kreuz mussten sehr viele Maßnahmen treffen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass wirklich jeder, der von außen in das Lager kommt, sich die Hände wäscht und sich desinfizieren lässt."
Heute, wie auch in den vergangenen Tagen sind nicht nur Kinder und Frauen angekommen, sondern auch viele junge Männer. Das ist ungewöhnlich, denn meist werden sie von Milizen rekrutiert oder beschützen ihre Dörfer als Bürgerwehren. Einer von ihnen ist Ate-Joel Piddu. Er ist 35 Jahre alt, treibt in seinem Heimatdorf Handel und ist in der Pfarrei tätig. Er ist von der Ethnie der Hema, wie die meisten Flüchtlinge.
"Ich stamme aus dem Fischerdorf Joo auf der anderen Seite des Albertsees. Unser Dorf ist vor etwas mehr als einer Woche angegriffen worden. Es gab zwei Attacken in unserer Gegend. Die Angreifer sind Milizen. Es ist wie damals, von 1998 bis 2004, als bei uns Bürgerkrieg herrschte. Es ist, als würde sich das jetzt wiederholen. Es sind die Milizen der Ethnie der Lendu, die uns Hema jetzt wieder angreifen."
Vor mehr als 15 Jahren kostete der ethnische Konflikt zwischen Lendu und Hema mehr als 50.000 Menschen das Leben. Damals zerstörten sich die Milizen in einer immer brutaler werdenden Spirale aus Rache und Vergeltung gegenseitig die Lebensgrundlage: Sie töteten Rinder, zerstörten Dörfer, vergewaltigten Frauen. Zwar wurden die verantwortlichen Milizführer nach der internationalen Militärintervention 2003 verhaftet und dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert. Aber seit etwa zwei Jahren spitzt sich die Situation vor Ort wieder zu. Wobei die Gründe dafür eher im 2000 Kilometer entfernten Kinshasa liegen.
Eine der liberalsten Flüchtlingspolitiken der Welt
Auf ihren wöchentlichen Pressekonferenzen verkündet die UN-Mission im Kongo stetig neue Konflikte – landesweit. In der Hauptstadt herrscht seit Ende 2016 eine Art politisches Vakuum. Nach dem Ablauf seiner Präsidentschaft weigerte sich Joseph Kabila bis heute, Neuwahlen durchzuführen. Stattdessen schüren Strippenzieher in der Hauptstadt Konflikte in den Provinzen. Und die wiederum dienen Präsident Kabila dazu, die Verzögerung der Wahlen zu rechtfertigen: zuerst kam es im Süd-Kongo in Kasai im vergangenen Jahr zu brutalen Auseinandersetzungen – jetzt bricht der Konflikt wieder in Ituri im Ostkongo aus.
Die UNO fordert Kongos Regierung öffentlich auf, bald Wahlen abzuhalten. Dass diese lokalen Konflikte absichtlich geschürt werden, um den Präsidenten an der Macht zu halten, wie es viele Analysten sehen, vermutet auch Ate-Joel Piddu aus dem Lager in Kyangwali.
"Die Milizen haben auch jetzt wieder extreme Gewalt angewandt. Mit Macheten haben sie einer schwangeren Frau das Baby aus dem Leib geschnitten. Die UN-Blauhelme, sie haben versprochen, uns zu schützen. Doch sie haben ihr Lager weit weg von unserem Dorf aufgestellt. 120 Kilometer entfernt. Wenn wir angegriffen werden, wie sollen sie uns schützen? Das hilft uns überhaupt nicht. Dasselbe mit unserer Armee. Wir haben einige von ihnen gesehen. Aber als wir angegriffen wurden, sind sie davon gelaufen. Normalerweise würden unsere Klanführer jetzt zu den jungen Männern sagen, wir sollen uns selbst verteidigen. So wie früher.
Doch Sie sehen hier die ganzen jungen Männer, die ankommen. Unser Chef hat befohlen, wir sollen uns nicht rächen – also fliehen wir jetzt auch. Wir wollen keinen Krieg. Wir wollen lieber Frieden. Doch die Politiker in Kinshasa: Sie stacheln uns jetzt wieder auf. Sie ziehen die Fäden. Sie provozieren diese Konflikte für ihren eigenen politischen Profit."
Ate Joel Piddu steht dicht gedrängt in einer Warteschlange vor dem Auffanglager. Das Zelt am Eingang, in dem die Neuankömmlinge desinfiziert werden, ist ihre erste Station hier. Danach werden sie von Angestellten des ugandischen Flüchtlingsministeriums registriert. Fotos und Fingerabdrücke werden gespeichert. Die Flüchtlinge bekommen eine ID-Karte ausgestellt. Mit dieser erhalten die Familien Lebensmittelrationen, Decken, Kochgeschirr. Sie werden von Ärzten untersucht, die Kinder systematisch geimpft. Erst dann werden sie in die eigentliche Siedlung Kyangwali gebracht, wo sie eine Hütte zugeteilt bekommen oder Baumaterialien erhalten, um sich selbst ein Haus zu bauen. Uganda hat eine der liberalsten Flüchtlingspolitiken weltweit – hier ist jeder willkommen – zum Teil bleiben die Menschen über Jahre hier.
Auf internationale Hilfe angewiesen
Auch Emmanuel Nzeyimana lebt seit knapp fünf Jahren in Kyangwali. Der kongolesische Familienvater beobachtet mit seiner Frau und der gebrechlichen Mutter von seiner Lehmhütte aus das chaotische Treiben der Neuankömmlinge. Hinter der Hütte wachsen auf einem kleinen Acker Maisstengel, Bohnen und Maniokwurzeln. Die Flüchtlinge bekommen Land zugeteilt, das sie beackern sollen – um sich langfristig selbst zu ernähren. So auch Emmanuel Nzeyimana.
"Ich bin vor langer Zeit schon aus dem Kongo geflohen. In meinem Dorf gab es viele Tote. Es kam vor, dass wir aus der Hütte hinaus traten und dort Leichen lagen. Wir sind nach Uganda geflohen damals. Und sehen Sie jetzt … - die ganzen Menschen, die jetzt wieder hier her flüchten. Die Gewalt geht weiter. Bislang ging es uns in Uganda nicht schlecht. Außer dass es immer dasselbe Essen gibt - jeden Tag dasselbe. Aber wir leben. Doch wenn ich jetzt sehe, wie viele hier täglich ankommen, macht mir das Sorgen. Bald bekommen wir sicher weniger, denn es wird nicht mehr für alle reichen. Immerhin. Wir haben ein Stück Land bekommen und konnten uns ein Haus bauen und einen Acker anlegen, um uns zu versorgen. Ich habe entschieden, dass es besser ist, hier von dem wenigen Essen zu leben, was wir bekommen, anstatt in unserer Heimat zu sterben."
Uganda beherbergt derzeit mehr als 1,4 Millionen Flüchtlinge – so viel wie kein anderes Land in Afrika. Die Mehrheit waren bislang Südsudanesen, die in den vergangenen drei Jahren vor dem Bürgerkrieg ins Nachbarland geflohen waren. Nun kommen immer mehr Kongolesen dazu. Bei der Erstversorgung ist Uganda dringend auf die Hilfe der Internationalen Gemeinschaft angewiesen, so Douglas Assimwe von Ugandas Flüchtlingskommission.
"Die Finanzierungslücke ist sehr groß. Laut UNHCR liegt die Finanzierung derzeit bei lediglich 35 Prozent. Wir sind also immer noch mit Lebensrettung beschäftigt, sozusagen mit Feuer löschen. Wir sind der Ansicht, dass die Internationale Gemeinschaft uns unterstützen sollte. Wir brauchen ihre Unterstützung, sonst müssen wir darüber nachdenken, wie viele Flüchtlinge wir noch aufnehmen können. Denn wir wissen nicht, was wir tun sollen."
Internationale Hilfsagenturen fürchten, dass ihnen bald das Geld ausgehen wird und das, obwohl sich die Situation immer weiter zuspitzt. Denn mit der andauernden politischen Krise und der daraus resultierenden humanitären Katastrophe im Kongo, wird vielen auch in Zukunft nicht anderes bleiben als die Flucht über den Albertsee.