Agnès Poirier: "An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940-1950"
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 552 Seiten, 25 Euro
Paris-Klischees für Touristen
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Philosophie, Sex und Jazz – Agnès Poirier schreibt über das Paris der 1940er-Jahre und reiht dabei ein Klischee an das nächste. Die Protagonisten – von Camus bis Sartre – treten auf wie in einem Hollywoodfilm, findet Kritiker Helmut Böttiger.
"An den Ufern der Seine" – der Titel klingt nach einem Reiseführer, und so irreführend ist das auch gar nicht. Agnès Poirier hat mit ihrem Buch vor allem den touristischen Aspekt im Visier. Die Stadt Paris eignet sich ja seit jeher bestens als Projektionsfläche, in erster Linie als die "Stadt der Liebe", und für Amerikaner steht sie für das freizügige, libertäre Leben an sich, das daheim im puritanischen Umfeld so schwer zu haben ist. Und noch dazu das Jahrzehnt zwischen 1940 und 1950!
Die französische Autorin, die seit langem in London lebt, hat mit ihrem Buch vor allem jene amerikanischen Touristen im Blick, die das Café Flore oder das Deux Magot besiedeln, eben die Stätten, die einmal auf geheimnisvolle Weise Philosophie, Sex und Jazz miteinander verbanden und wo noch heute wohlige Schauer von Kultur und Lebenskunst erwartet werden.
Von Camus bis Beauvoir
Agnès Poirier ist eine auf Wirkung setzende Journalistin, sie arbeitet für führende Magazine und audiovisuelle Medien, stellt heraus, dass Albert Camus wie Humphrey Bogart aussah und hat überhaupt vieles zusammengetragen, was jene "magischen Jahre von Paris" in Szene setzen könnte. Krieg, Liebe und Tod, Faschismus und Kommunismus – alles kommt zusammen, dazwischen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mitsamt ihren Gespielen und Gespielinnen, aber natürlich auch Miles Davis und Juliette Gréco – "es war Liebe auf den ersten Blick".
Die Materialsammlung, aus der Poirier schöpft, kann sich sehen lassen. Sie hat viele Biografien und zeitgenössische Darstellungen durchforstet und nach Stellen abgesucht. Alle treten ins Bild, von Jean Cocteau bis Henry Miller, von Simone Signoret bis Coco Chanel. Der Stoff ist wirklich hinreißend, die zeitgeschichtliche Situation turbulent, unübersichtlich und spektakulär. Agnès Poirier weiß das und verzichtet deshalb auch auf allzu komplexe politische Zusammenhänge und Widersprüche. Umso häufiger kommt sie auf amouröse Verwicklungen zu sprechen.
Klischees und Hollywood-Kitsch
Natürlich hat man, wenn man sich mit dem Thema schon einmal befasst hat, das Meiste bereits gelesen. Zu jedem Einzelaspekt – Philosophie, Politik, Theater, Film und alle möglichen Künste – gibt es unzählige Abhandlungen, die das Spannende dieser Zeit auch in allen einzelnen Details untersuchen und vor Augen führen. Poiriers Buch greift da lustvoll mitten hinein. Es ist in erster Linie ein Indikator dafür, worauf man heute im Buchmarkt spekuliert. Auch der Verlag Klett-Cotta verspricht sich offenkundig, und wohl leider auch zu Recht, mit der deutschen Ausgabe einen gewissen Verkaufserfolg.
Poiriers Stil orientiert sich anscheinend an einem hehren Maßstab von "literarischer Reportage", der ihr unter der Hand aber gänzlich abhanden gekommen ist. Klischee um Klischee reihen sich aneinander, die einzelnen Protagonisten treten auf wie in einem Hollywoodfilm, vor satten Streicherflächen und in zu dick aufgetragenen Farben: "Sie waren einzig der Kunst und der Menschheit verpflichtet". Und auch nach den Entbehrungen im Krieg bleibt Picasso Picasso: "seine Augen glichen nach wie vor zwei schwarzen Diamanten". Man lernt bei alldem: Auch der Existenzialismus ist couch-potato-kompatibel.