Agonie eines Imperiums

Eine kleine Alltags-Geschichte der Sowjetunion: Was die 30 Erzählungen von Küf Kaufmann lesenswert und unterhaltsam macht, ist ihr intelligenter Witz, viel Selbstironie, der Sinn für manche Skurrilitäten und eine sehr gepflegte Sprache.
Niemand wird sich wundern, dass das Nationalgetränk der Russen diese 30 Geschichten, die sich zum Lebensroman formen, durchfließt. Mal als üppiger Strom, wenn es um Reflexionen über das Trinken an sich geht oder über Abenteuer und Begebenheiten, in denen der Wodka eine bedeutsame Rolle spielt.

Dann wieder erscheint er als fast versiegendes Rinnsal, etwa wenn der Ich-Erzähler bekundet, er habe, nach einer wahrlich exzessiven Überdosis als Jugendlicher, 20 Jahre lang überhaupt keinen Wodka anrühren können. Und in etlichen Texten ist er schlichtweg nicht vorhanden, zum Beispiel da, wo es um die erste – natürlich unglückliche – Kinderliebe geht oder jene erinnerungsschwere Ohrfeige, die der Junge vom älteren Bruder erhielt, weil er bei der Nachricht von Stalins Tod losgelacht hatte.

Und wo die Frage nach koscheren Lebensmitteln aufgeworfen wird, ist auch klar, dass es um jüdische Identität geht. Allerdings verhandelt Küf Kaufmann die Angelegenheit allenfalls randständig. Der Ich-Erzähler ist jüdischer Herkunft, aber dieses Jude-Sein wird hier und da in lebenspraktischen oder historischen Zusammenhängen lediglich erwähnt, weder Fragen des Glaubens noch daraus folgende Riten spielen eine Rolle. Nur in einer Geschichte erfährt das Thema eine drastische Zuspitzung. Da schildert der Ich-Erzähler die Atmosphäre im Leningrad (heute längst wieder Sankt Petersburg), wie es sich für einen Juden kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion anfühlte. Das Anschwellen antisemitischer Gelüste, die sich plötzlich ungehemmt artikulieren durften, die Zusammenrottungen entsprechend gestimmter Leute, die Drohungen ganz offen ausstießen und sogar zu Pogromen aufriefen und unter den Juden geradezu Panikgefühle auslösten, all das bringt den Helden schließlich dazu, nach Deutschland zu emigrieren.

Dieser in Episoden gegliederte Roman erzählt die Lebensgeschichte seines Ich-Erzählers. Unschwer ist zu erkennen, dass sie in den Hauptlinien mit der des Autors übereinstimmt. Der Geburtsort Marx (in dem auch eine der Geschichten spielt), die Arbeit als Regisseur der Leningrader Music-Hall, die Emigration nach Deutschland, all das sind parallele Verläufe zwischen dem erzählenden Ich und dem Autor. Es sind Geschichten, die manchmal nur ganz kleine und in einem Lebensverlauf ganz übliche Momente erzählen wie die erste Liebe oder "das erste Mal". Was sie lesenswert und unterhaltsam macht, ist ihr intelligenter Witz, der immer fein bleibt, weil er nicht auf die krachende Pointe abzielt, viel Selbstironie, der Sinn für manche Skurrilitäten, die das Leben so bietet, und eine sehr gepflegte Sprache.

Auf der anderen Seite ergibt sich so etwas wie eine kleine (Alltags-) Geschichte der Sowjetunion, die vom Zweiten Weltkrieg (wenn auch in vermittelter Form über eine spezielle Schulstunde des Ich-Erzählers) über den späten Stalinismus, die 60- und 70er-Jahre, Gorbatschows Perestroika bis zur Agonie des Imperiums reicht. Und in gewissem Sinn darüber hinaus. Denn in jener hinreißenden Episode, in der der Held von seiner Zeit als Bier- (und vermutlich auch Wodka-) Verkäufer für die im vereinten Deutschland stationierten russischen Truppen erzählt, verlängert sich gleichsam jenes historisierende Erzählen in die neue (Lebens-) Epoche.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Küf Kaufmann: Wodka ist immer koscher. Ein Roman über das Trinken und das Leben
Aufbau Verlag, Berlin 2011
218 Seiten, 16,95 Euro