Agrarindustrie

Hunger oder Fortschritt?

Ein als Huhn verkleideter Demonstrant protestiert am in Berlin vor dem Brandenburger Tor gegen die Agrarindustrie.
Ein als Huhn verkleideter Demonstrant protestiert am in Berlin vor dem Brandenburger Tor gegen die Agrarindustrie. © picture alliance / dpa
Von Udo Pollmer |
"Wir haben es satt!" Mit diesem Slogan protestiert ein Bündnis aus dem Öko-Milieu gegen die Agrarindustrie. Udo Pollmer ärgert sich über die Parole. Sie verkläre die historische Landwirtschaft und ignoriere wichtige Errungenschaften.
Die Forderung nach kleinen bäuerlichen Betrieben findet immer mehr Anhänger. Die Agrar- und Lebensmittelbranche hat ja auch tief in die Tasche gegriffen, um diese Idee im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, die Idee vom gemütlichen Bäuerlein, das sich noch persönlich um jedes Kräutlein, Käferlein und Häslein kümmert, und die Schädlinge mit einer Panflöte aus dem Weinberg lockt. Die Kitschpostkarten-Idylle ist nichts anderes als die Werbung, mit der über 30 Jahre das Gehirn des Verbrauchers weichgespült wurde. Wenn dann noch auf dem Fertigsuppentütchen zu lesen ist, die Krümel seien "nach Gärtnerinnenart mit dem Suppenlöffel geerntet", dann sollte der Marketingchef mit dem Kochlöffel eins hinter die Löffel kriegen.
Unternehmen haben den Sturm selbst gesät
Jetzt ernten die Unternehmen jenen Sturm, den sie selbst gesät haben, aber sie waschen ihre Pfoten in Unschuld. Wie die kleinen Kinder nach ihrer Mama, rufen sie nach dem Staat. Er soll doch endlich etwas gegen die Technikfeindlichkeit am Industriestandort Deutschland unternehmen. Derweil tüfteln sie schon an der nächsten Werbe-Kampagne, diesmal aus der heilen Welt der Serengeti: Da serviert dann die Löwenmama dem Löwenkind grünen Öko-Salat in der biologisch abbaubaren Vorratspackung, weil die sportlichen Antilopen zu niedlich zum Essen sind.
Die Möglichkeit, einfach selbst dem Verbraucher jene Fakten zu vermitteln, die sie in der öffentlichen Diskussion vermissen, scheint den Unternehmen fremd zu sein. Zum Beispiel: Vor 100 Jahren wurde zur Ernährung eines Bürgers mehr als ein Hektar benötigt. Also bei regionaler, saisonaler und biologischer Wirtschaftsweise in kleinbäuerlichen Strukturen, genau dem agrarpolitischen Ziel der "Wir-haben-es-satt"-Bewegung. Dank moderner Technik genügt uns heute pro Person ein Fünftel.
Viel Fläche für Luxusgemüse
Der gewaltige Rest von 4/5 Fläche reicht nicht nur aus, um die Bevölkerung mit fast nährstofffreiem Luxusgemüse wie Gurken oder Spargel zu erfreuen. Die 4/5 schufen auch Platz für die vielen Häuschen im Grünen und die Siedlungen rund um die Städte und Dörfer, sie machten Platz für Stromtrassen, Sonnenvoltaik-Parks, für Naherholungsgebiete, Sportanlagen und natürlich für den Naturschutz. Der Biber kam nicht deshalb zurück, weil ihm Naturschützer beim Baumfällen zur Hand gehen. Er findet endlich wieder verwilderte Nasswiesen vor, also Flächen, die von der Landwirtschaft aufgeben werden konnten. Je mehr Agrartechnik, desto mehr Platz für die Natur.
Nicht nur die Erträge haben sich in den letzten 100 Jahren verfünffacht, die Arbeit auf dem Acker hat sich um weit mehr als den Faktor 5 vermindert. Früher arbeiteten 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Feld oder im Stall. Der übliche Beruf war Magd oder Knecht – im Sommer haben sie Woche für Woche etwa 100 Stunden geschuftet. Auch die Kinder. Es gab eben keine Maschinen. Früher hätte ein Betrieb mit 200 Milchkühen einen Gutsinspektor mit viel Personal gebraucht, heute managt das eine schmächtige Bäuerin. Die historische Landwirtschaft, in der sich die Menschen in Armut ihr kurzes Leben lang krumm und bucklig gearbeitet haben, wird geschichtsvergessen zum Idyll verklärt.
Die Zeit der Knechte ist vorbei, zum Glück
Es war der technische Fortschritt im Agrarwesen, der dafür gesorgt hat, dass wir uns nicht mehr als Knecht oder Magd verdingen müssen. Seither haben wir eine Kindheit, genießen Schulbildung, können unseren Beruf nach Neigung wählen. Neben Studium und Arbeit bleibt einigen noch genug Zeit, um vor dem Bundeskanzleramt gegen die Agrartechnik zu protestieren. Wenn sie danach Hunger verspüren, lockt an jeder Ecke ein Imbiss oder ein Restaurant mit Spezialitäten aus aller Welt.
Die Forderung nach kleinbäuerlicher Landwirtschaft wird nicht Realität. Denn es wird keinen jungen Landwirt mehr geben, der bereit wäre, einen solchen Betrieb zu übernehmen. Die Nahrungsproduktion in Deutschland hätte sich damit erledigt. Aus dem "Wir haben es satt"-Rufen wird dann wieder ein "Wir-haben-Hunger"-Gewimmer. Mahlzeit!
Literatur:
Keckl G: Vegetarische Legenden. EU.L.E.N-Spiegel 2012 (4-6) 3-27
Frank Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirt-schaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011
Die Statistischen Jahrbücher über Landwirtschaft und Ernährung der letzten 100 Jahre
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