Wiederaufbau im Ahrtal
Bad Neuenahr-Ahrweiler, gut zwei Wochen nach dem Hochwasser. Geograf Thomas Roggenkamp von der Uni Bonn warnt, dass noch höhere Pegelstände als damals möglich sind – und damit noch größere Zerstörungen. © imago images / NurPhoto / Ying Tang
Die alten Fehler wiederholen sich
11:00 Minuten
Fünf Autoren stellen vor Ort ihr Buch über das Ahrtal-Hochwasser im Sommer 2021 vor: Sie blicken nicht nur zurück, sondern auch voraus: Beim Wiederaufbau würden alte Fehler wiederholt, die Politik ignoriere Erkenntnisse der Wissenschaft.
Die Altstadt von Ahrweiler am frühen Abend: dunkel und leer. Nur vereinzelt trifft man auf Passanten. Vorbei sind die Zeiten, als Ahrweiler an Weihnachten von Touristen aus den Benelux-Ländern überrannt wurde. Zum dritten Advent kreuzten früher Reisebusse aus ganz Deutschland auf, erinnert sich Zarko Cirkovic.
Und jetzt? „So kaputt, wie es alles war – es geht schleppend. Man hört von allen Seiten von Materialmangel, auch Handwerker sind schwer zu bekommen. Viele hatten sich vorgenommen, ihre Geschäfte früher aufzumachen, ihre Wohnungen wieder zu beziehen. Aber das funktioniert leider nicht.“
Das Restaurant, in dem Cirkovic früher gearbeitet hat – noch geschlossen. Der Sohn musste sein kurz vor der Flut gekauftes Haus abreißen lassen. Immerhin haben alle überlebt, sagt der Vater. Die Holländer und Belgier fehlten als Besucher. Ohne die Ahrtalbahn, sanierte Straßen und Parkplätze seien sie kaum wieder herzulocken, fürchtet Cirkovich.
In Dernau ist die Lage noch schlimmer
Olga und Helmut Kern sind dennoch für einen Kurzurlaub aus dem nahen Rheinland angereist. Doch die kolumbianisch-stämmige Kölnerin ist bestürzt darüber, „wie die Sache nach zwei Jahren immer noch aussieht, wie wenige Leute in ihre Häuser zurückgekehrt sind, wie lange die Renovierung läuft und wie kaputt alles noch immer aussieht".
Das Paar ist den Rotweinwanderweg gelaufen. „Aber wenn man unten nach Dernau kommt, ist es noch schlimmer als hier.“ Ahrweiler schlimm, Dernau noch schlimmer – traurig finden das die Kerns. Abends sei es gar nicht so einfach, ein Restaurant zu finden.
„Verglichen mit 2021 sieht es doch schon wieder ganz gut aus“, meint dagegen Vanessa. Die Kölnerin deutet auf sanierte Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz. Bislang kam sie regelmäßig ins Ahrtal, um ihrer ebenfalls betroffenen Familie zu helfen, aber jetzt auch als Touristin.
„Vieles braucht halt seine Zeit. Nur negativ denken – damit kommen wir ja auch nicht weiter. Es kommt halt hübscher wieder, denke ich. Es wird.“
Wer die Altstadt durch das historische Ahrtor verlässt, erreicht nach wenigen Schritten das sogenannte Ahrwein-Forum des örtlichen Winzervereins. Auch hier stand das Wasser. Jetzt ist der Saal frisch saniert mit ornamentalen Reliefs an den Wänden.
Der hell erleuchtete Raum mit Beamer und Leinwand füllt sich. Mit Publikum, das nicht nur hören will, dass es wird im Ahrtal, sondern vor allem, wie es wird. Weil die Stühle in der Saalmitte alle schon besetzt sind, bauen Helfer Bierbänke entlang den Wänden auf.
Reges Interesse an Aufarbeitung
Zur Buchvorstellung eines Autorenquintetts aus ganz Deutschland kommen rund 100 Besucher von überall her – aus dem Ahrtal, aber auch aus umliegenden Orten in der Eifel. Viele von Ihnen haben die 350 Seiten starke Dokumentation namens „Spuren der Flut“ schon in der Hand oder auf dem Schoß liegen. Andere stehen am Büchertisch an, um ein Exemplar zu erwerben. Wieder andere bemühen sich um ein Autogramm.
Die erste interdisziplinäre Analyse dieser historischen Katastrophe wird mit Spannung erwartet. Autor Thomas Roggenkamp, promovierter Geograf an der Uni Bonn, ist von dem großen Andrang überrascht. Wolfgang Büchs, Gastprofessor für Biologie an der Uni Hildesheim, freut: „Die Resonanz ist überwältigend. Wir müssen Stühle über Stühle hinzuholen, es ist unglaublich."
Wie ihre drei Co-Autoren aus der Region sind auch die angereisten Wissenschaftler Roggenkamp und Büchs langjährige Ahrtal-Kenner.
Wo ist der Hochwasserschutz?
Besucher Joachim Heyna steht noch am Rand, Charlotte Faber-Hemeling hat schon einen Sitzplatz weit vorn ergattert. „Ich persönlich bin da, weil ich einen Roman über die Ahrtalflutschriebe und diese Hintergründe genau dafür brauche. Deshalb finde ich genial, dass das jetzt hier in meiner Nähe stattfindet", setzt er an.
"Aber natürlich ist man als Ahrtal-Bewohner auch daran interessiert, ob wir wieder die gleichen Fehler machen – haben wir uns gerade noch drüber unterhalten – oder ob wir lernen, mit diesen Dingen besser umzugehen“, fährt er fort.
„Für alle Anwohner Region ist natürlich ein wichtiger Punkt: Wo ist der Hochwasserschutz, was wird getan?", fragt Faber-Hemeling. "Ich war kürzlich bei einer Veranstaltung, ‚Wie geht es weiter nach der Flut‘. Hochwasserschutz – da reden die von 2024, bis überhaupt mal ein Konzept steht.“
Dann aber müssten die Grundstücke für Flutmulden oder Rückhaltebecken erst mal gekauft werden. Auch das dürfte dauern, mutmaßt sie. „Insofern machen wir uns schon alle Sorgen, die wir in Ahr-Nähe wohnen, wie das in den nächsten Jahren weitergeht. Wenn man die Ahr anguckt: Die ist bei starkem Regen einfach breiter als früher, weil sie mit Schutt und Schlamm gefüllt ist."
Der Klimawandel begünstigt häufigere Extremwetterlagen, das hat sich herumgesprochen. „Und deswegen: eine kritische Analyse ist sicherlich auch fällig“, fügt Faber-Hemeling an.
Kritische Analyse
Eine schonungslose Analyse ist von den Autoren der Flutdokumentation durchaus zu erwarten. Thomas Roggenkamp hat schon mehrfach als Hochwasserexperte vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Mainz ausgesagt.
Sein Urteil, dass die Ahr mit der Flut vom Sommer 2021 ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft habe, zitieren Betroffene häufig. „Ja, das ist vielleicht etwas, was für die Zukunft nicht unbedingt Mut macht. Aber es ist Realität. So wie man vorher die Hochwasser unterschätzt hat, indem man sich nur auf Pegelmessungen berufen hat, darf man auch jetzt nicht den Fehler machen, zu glauben, dass das schon das Maximum war, was wir 2021 erlebt haben", warnt er.
"Es geht noch mehr. Wir haben gesehen, dass das Regenband nicht mittig über dem Ahrtal lag, sondern das Ahrtal eigentlich nur gestreift hat und die nördlichen Gebiete stark betroffen waren", erläutert der Geograf. "Würde dieses Regenband etwa 20 Kilometer weiter südlich liegen, dann wäre das Ahrtal von dem Hochwasser noch viel stärker betroffen und der Wasserstand noch mal deutlich höher gewesen.“
Die Stadt liegt im alten Flussbett
Thomas Roggenkamp und die anderen Autoren zeigen an diesem Winterabend anhand von Karten und Grafiken über Hochwasser in der Vergangenheit, wie die Gefahren durch die Ahr und ihre Nebenbäche mit zunehmender Besiedlung wachsen.
Sie machen deutlich: Die Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler steht in Teilen nicht an der Ahr, sondern im alten Flussbett. Den historischen Lauf der Ahr kennt Roggenkamp aus den alten Karten: „Sehr verwildert, sehr verzweigt, gerade am Unterlauf." Man erkenne das auch und gerade in Bad Bodendorf, wo die Gegend nicht so dicht besiedelt ist, an den unterschiedlichen Färbungen der landwirtschaftlichen Flächen. "Da sieht man noch die alten Mäanderarme. Man erkennt daran, wie der eigentliche Ahr-Lauf aussehen würde: nämlich sehr viel breiter, sehr viel verzweigter."
Deshalb seien die alten Siedlungen ja auch mit einer gewissen Entfernung zur Ahr gebaut worden. "Insofern stimmt die Aussage ganz genau, dass man in die Ahr hineingebaut hat, in das alte Flussbett hinein.“
Rückfall in alte Muster
Das sollte aufhören, findet der Hydrologe – wissend, dass es längst weitergeht. Die Kommunalpolitik habe nicht verstanden. „Zumindest nicht auf lange Sicht – denn wir sehen entlang der Ahr, dass die Fehler schon wieder gemacht werden."
In Bad Bodendorf und auch in Bad Neuenahr selber würden Neubaugebiete ausgewiesen: "Man baut aktiv neue Gebäude entlang der Ahr. Da geht es also nicht darum, dass Menschen, die ihr Haus verloren hatten, es an gleicher Stelle wiederaufbauen dürfen, sondern es geht darum, neue Wohnungen zu schaffen. Dem stehe ich sehr kritisch gegenüber.“
Mehr Bebauung, das bedeutet höhere Wasserstände und damit ein höheres Risiko für Leib und Leben, weiß der Experte. Und zwar für alle, nicht nur für direkte Flussanrainer.
Viele seiner Zuhörer stimmen dem Wissenschaftler zu. „Wir bauen zu schnell, ohne das Thema ganzheitlich zu betrachten", sagt Gabriel Heeren. Er kommt aus Sinzig an der Ahrmündung, nur 300 Meter vom Fluss entfernt liegt dort sein Elternhaus.
Das Gehörte macht ihn nachdenklich: "Man könnte sich mehr an den historischen Hochwassern orientieren, da man jetzt auch in dem Vortrag gesehen hat, dass es genau dieselben Flächen betroffen hat, die schon mal überflutet wurden.“
Schneller Wiederaufbau statt Naturschutz
Doch immer noch dominiere in der Kommunal- und Landespolitik der Wunsch nach schnellem Wiederaufbau, beobachtet der Autor Wolfgang Büchs. Statt den Durchgangsverkehr aus dem ökologisch wertvollen Sahrbachtal zu verbannen, habe man dort auf sieben Kilometern eine Straße betoniert.
Für das unbewohnte Gebiet westlich von Altenahr hätte eine Schotterpiste gereicht, findet der Biologieprofessor, alles andere sei schlecht für die Hochwasservorsorge und die Artenvielfalt. Vertan sei damit auch die einmalige Chance, Lebensraum für den europaweit gefährdeten Wiesenknopf-Ameisenbläuling zu sichern. Der Schmetterling braucht von Ameisen besiedelte Biotope.
Das hätte man wissen können, wenn im Zuge der Planung Naturschutz-Expertise eingeholt worden wäre. Aber: „Das hat man ja bisher überall erfolgreich vermieden." Büchs fordert: "Das darf nicht mehr so weitergehen.“
Denken an andere Flusslandschaften
Der Abend klingt aus bei Ahr-Wein, Käsestangen und lebhaften Gesprächen. Ein Abend der bitteren Wahrheiten. Das Publikum, zum großen Teil vom Hochwasser betroffen und seelisch stark belastet, will sie hören und verkraftet sie.
„Ich habe den Eindruck, dass die Menschen sehr offensiv mit dem Hochwasser-Thema umgehen und bereit sind, schwer verdauliche Fakten anzunehmen“, sagt der Geograf Thomas Roggenkamp. Er fragt sich aber, wie lange noch. „Stichwort 'Hochwasserdemenz': Irgendwann werden solche Themen vielleicht auch wieder in den Hintergrund rücken."
Er plädiert dafür, sich dem Vergessen entgegenzustellen. Zudem sei es wichtig, solche Erkenntnisse nicht nur auf das Ahrtal zu münzen. "Hier ist die Bereitschaft gerade sehr groß, solche Themen anzupacken und anzunehmen", sagt er und warnt: "In anderen Flusslandschaften ist das vielleicht gar nicht so der Fall, obwohl die Ausgangssituation die gleiche ist.“
Landschaft und Geschichte e.V (Hrsg.): "Spuren der Flut im Ahrtal 2021- Dokumentation, Analyse, Perspektiven"
Autoren: Wolfgang Büchs, Jürgen Haffke, Thomas Roggenkamp, Winfried Sander, Andreas Schmickler.
Landschaft und Geschichte e.V., Odenthal 2022
352 Seiten, 34,50 Euro