Aimé Césaire

Anklagend und radikal gegen die Enthumanisierung

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Aimé Césaire wurde 1913 in Martinique geboren und starb dort 2008. © picture-alliance/ dpa / epa Maxppp Rouquette
Susanne Stemmler im Gespräch mit Andrea Gerk |
Aimé Césaire wurde in den 50ern vor allem mit seiner "Rede über den Kolonialismus" bekannt. Doch auch abseits seiner Publizistik hat Césaire immer wieder die kolonialen Machtverhältnisse in Frage gestellt, wie die Publizistin Susanne Stemmler erklärt.
Andrea Gerk: Vor zehn Jahren, am 17. April 2008, starb der Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire im Alter von 94 Jahren. In seinem langen Leben hat er viel bewirkt für das Selbstbewusstsein und die Selbstbehauptung Schwarzafrikas. Césaire gilt als Mitbegründer der "Négritude"-Bewegung, und einer seiner Schlüsseltexte, der Essay "Über den Kolonialismus", ist gerade im Alexander Verlag neu aufgelegt worden. Wer Aimé Césaire war, was er bewirkt hat, damit hat sich die Romanistin Susanne Stemmler beschäftigt. Mit ihr bin ich jetzt in einem Studio in Aachen verbunden. Guten Tag, Frau Stemmler!
Susanne Stemmler: Guten Tag, Frau Gerk!
Gerk: Aimé Césaire war ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch Politiker. Er war 56 Jahre lang Bürgermeister von Fort-de-France. Was war denn das für ein Mann?
Stemmler: Also Aimé Césaire ist sozusagen in die koloniale Gesellschaft Martiniques hineingeboren worden, 1913 in Basse-Pointe. Er war ein Sohn einer kinderreichen Familie, hatte dann aber, durch seine unglaublich guten Schulleistungen, Zugang zu Bildung und ist zum Abitur sogar nach Paris gegangen, mit einem Stipendium, wo er dann auf andere Intellektuelle, vor allem schwarze Intellektuelle der damaligen Zeit, traf. Er hat dort eine Zeitung gegründet, "L’Étudiant noir" hieß die, und hat sich also sehr schnell politisch eingemischt, auf der einen Seite, war aber dann als Literat, als Autor von Gedichten und anderen Texten, tätig. Das heißt: Wir haben es mit einem Mann zu tun, der in einer Kolonie Frankreichs geboren wurde, auf der Insel Martinique, der die kolonialen Strukturen, die Machtstrukturen, die sich daraus ergeben hatten, am eigenen Leib erfahren hat und sehr schnell gemerkt hat, wie sehr ihn dieses System geprägt hat, gegen das er sich dann sehr radikal, mit großer Vehemenz gewehrt hat und das eben auch verbreitet hat, in seinen Texten.

Einen eigentlich negativen Begriff positiv umgedeutet

Gerk: Sie haben ja schon gesagt, er hat in Paris, als er dort studiert hat, die Zeitschrift "L’Étudiant noir" mit gegründet, und da taucht ja zum ersten Mal dieser Begriff auf, den man auch über ihn kenn – "Négritude". Was ist denn genau damit gemeint?
Stemmler: Das ist natürlich ein Begriff, der uns, in unserer heutigen Zeit, wo wir sehr viel auch darüber sprechen, welche Begriffe man als Bezeichnung benutzen kann, darf, wer wen wie bezeichnen darf, das ist ja sehr kontrovers. Deswegen: Wenn ich diesen Begriff benutze, dann benutze ich ihn als Zitat, in Anführungsstrichen, "Nègre", "Négritude" ist von "Nègre" abgeleitet, und "Nègre" ist in der französischen Sprache der Begriff gewesen, der eigentlich Sklave heißt oder hieß.
Bis ins 19. Jahrhundert hat man einfach mit dem Begriff "Nègre" Sklaven bezeichnet. Der Aimé Césaire hat dann diesen Begriff positiv gewendet. Man kann es eigentlich kaum glauben, weil es natürlich ein abwertender Begriff ist, um Menschen zu reduzieren, auf ihre Körperlichkeit, auf ein fast schon tierisches Dasein, dass eben bestimmte Gräueltaten des Kolonialismus zu rechtfertigen waren. Also diese Reduktion, diese Verdinglichung und Entmenschlichung, die in diesem Begriff mitschwingt, das hat er mal so formuliert: "angenommen, wie einen Stein, den man auf mich wirft". Das heißt, einen eigentlich negativen Begriff hat er positiv umgedeutet, in der Diskussion mit seinen Kollegen, und hat ihn im Grunde genommen sich selbst wieder neu angeeignet und damit gemeint, der ganze Erfahrungsschatz, der gemeinsame Bezugspunkt der Verschleppung und Versklavung, diese gemeinsame, geteilte Geschichte, das ist unser Referenzpunkt. Afrika spielt da eine ganz große Rolle, also Afrika als gemeinsamer Bezugsrahmen, definitiv als Gegenmodell zu dem europäisch übergestülpten exorzistischen Diskurs.

Verdinglichung und Enthumanisierung durch das koloniale System

Gerk: Ein Schlüsseltext dieser "Négritude" ist ja dieses jetzt wieder aufgelegte Essay "Über den Kolonialismus". Was fordert er denn konkret in diesem Text?
Stemmler: Also dieser Text ist hochaktuell. Man kann ihn immer wieder lesen. Insofern hat der Alexander Verlag ihn zurecht jetzt auch wieder aufgelegt. Im ersten Teil beschreibt er diese Verdinglichung, diese Enthumanisierung, die durch das koloniale System bewirkt wurde. Im Grunde genommen fordert er, und er schaut da sehr stark nach vorne, dass, wenn man sich auf Zivilisation, wenn man sich auf Fortschritt der Menschheit und so weiter beruft, wie es ja Europa und vor allem eben Frankreich als "Grande Nation" getan hat, dann darf man nicht auf der anderen Seite Gräueltaten verüben, so wie es Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien getan hat. Und er nennt da auch wirklich die Dinge beim Namen. Es ist schon eine anklagende Schrift, eine sehr radikale Schrift. Was er vor allem anprangert, ist dieser Pseudo-Humanismus im Namen der Menschenrechte.
Gerk: Wie liest sich das denn heute? Da klingelt es doch geradezu, oder – in Anbetracht der ganzen Probleme, die wir jetzt auch wieder damit haben?
Stemmler: Es klingelt da wirklich an verschiedensten Stellen. Zum einen ist es natürlich so: Wenn man die untergegangenen Boatpeople im Mittelmeer vor Augen hat, die Geflüchteten, die im Mittelmeer ertrinken, auf der Flucht nach Europa, dann hat man natürlich sehr starke Assoziationen und Bilder, und es sind immer die gleichen wiederkehrenden Bilder der Überfahrt auf dem Meer, die auch Aimé Césaire in seiner Poesie verwendet. Der Effekt oder das Resultat einer menschenverachtenden Ungleichheit und einer europäischen Dominanz, die da zum Ausdruck kommt, und heutzutage sagt man: "Wir machen die Grenzen zu, ihr kommt da einfach nicht mehr rein." Und Menschen nehmen eben diese lebensgefährliche Überfahrt in Kauf, und viele sterben dabei. Und Europa macht nichts, Europa verschließt die Augen davor. Das sind im Grunde genommen Dinge, die er damals schon angeprangert hat, und gegen die er auch gekämpft hat – eben nicht nur mit Schriften, mit dem Wort, sondern eben auch ganz aktiv, zum Beispiel als Abgeordneter in der Nationalversammlung.

Kontroverse Diskussion mit großem Widerhall

Gerk: Wie war das denn damals, als die "Rede über den Kolonialismus", die ja nie richtig gehalten wurde, sondern eben als Buch veröffentlicht wurde, wie waren die Reaktionen damals darauf?
Stemmler: Also er ist natürlich nicht auf Gegenliebe gestoßen. Es ist letztendlich die Rede, die er gerne gehalten hätte und die Wut, die sich in ihm angestaut hat, über die Verhältnisse. Sie ist ja 1950 veröffentlich und wurde dann noch mal 1955 aufgelegt. Es gab natürlich sehr kontroverse Diskussionen. Auf der anderen Seite hat er einen großen, großen Widerhall gefunden. Also, ich denke mal: Es ist der Schlüsseltext und die Schüsselrede für das, was man dann später postkoloniale Bewegung genannt hat. Weil sich eben sehr viele darauf bezogen haben. Und dieser Text hat eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Man denke nur, um Ihnen ein Beispiel zu geben, an die antikoloniale Bewegung in Algerien, also ein ganz anderer Schauplatz. Wenn man von Martinique nach Algerien geht. Dort bezog man sich eben auch auf diesen Text sehr, sehr, im Kampf gegen die Unterdrückung durch Frankreich und auch diese Gräueltaten, die auch in Algerien verübt wurden, bis es dann 1962 unabhängig geworden ist. Also viele Autoren, Intellektuelle, Politiker haben sich auf diese Schrift bezogen.
Gerk: Hat Aimé Césaire denn auch versucht, in seiner Heimat, wo er ja mehr so als Politiker auch wahrgenommen wurde, weil er da eben so lange Bürgermeister war – aber eben, er war auch Abgeordneter der französischen Nationalversammlung –, hat er denn auch versucht, das, was er, zum Beispiel in diesem Text, formuliert hat, praktisch umzusetzen und da 'was zu erreichen?
Stemmler: Ja, er war ja sehr, sehr lange Bürgermeister. Also er war insgesamt 56 Jahre Bürgermeister von Fort-de-France und ist auch immer wiedergewählt worden. Er war erst bei den Kommunisten, hat dann aber selbst eine Martinique-Partei gegründet, in der er für die Autonomie Martiniques gekämpft hat. Und den ersten Schritt, den er erreichen konnte, war nicht die Unabhängigkeit, aber von der Kolonie ging es dann in ein sogenanntes Département d’outre-mer, also in ein Übersee-Department Frankreichs. Und er hat sich eben – auch vor Ort gibt es eigentlich keine Diskrepanz zwischen seinem Reden und seinem Tun – für diese emanzipatorischen Dinge und die Neubewertung des Verhältnisses zu Frankreich und der europäischen Welt eingesetzt. Und er stand dann auch – heute würde man das Globalisierung nennen – in einem globalen Austausch. Man muss sich das vorstellen – mit dem ersten Präsidenten Senegals, Léopold Sédar Senghor, auch Autor und Politiker.

Kampf gegen die Ausbeutung

Es gibt noch einen anderen Aspekt, der sehr spannend und sehr interessant ist. Durch diese Kritik am Kolonialismus, die Césaire immer begründet hat, auch mit einer Kritik am ungebrochenen Fortschritts- und Technikglauben – heute würden wir das vielleicht umweltkritisch oder ökologiekritisch nennen – war natürlich auch klar, dass er gegen die Ausbeutung der Insel Martinique gekämpft hat, also zu einem sehr, sehr frühen Zeitpunkt, lange bevor wir über Klimawandel oder die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen gesprochen haben oder. Und da war auch ein anderes Verständnis zur Natur, ein eher vom karibischem Denken oder einem vom afrikanischen Denken geprägten Zugang zu der Natur, im Sinne einer beseelten Natur, von diesen Dingen hat er, manchmal eher indirekt, aber hat er auch gesprochen, die hat er beim Namen genannt und hat gesagt, dass eben der europäische Fortschritt die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört hat. Und das war natürlich zu der damaligen Zeit wirklich schon geradezu hellseherisch.
Gerk: Also er war offenbar in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus. Hat er denn, wird er denn so heute auch noch wahrgenommen, im karibischen Raum? Hat er da noch eine große Bedeutung?
Stemmler: Ja, definitiv. Er hat eine große Bedeutung. Einige karibische Autoren waren bei ihm Schüler. Er hat dann hinterher in Fort-de-France am Lycée, am Gymnasium, unterrichtet, und es gibt große Namen – ich nenne einfach nur mal einen beispielhaft, das ist Édouard Glissant –, die bei ihm Schüler waren, die dann hinterher seine Thesen aufgenommen haben, weiterentwickelt haben, weiterverarbeitet haben.
Also man kann seine Wirkung gar nicht unterschätzen, und sie geht eben auch weit über die Karibik hinaus. Es gibt sogar Rapper, die das Denken von Aimé Césaire heute aufnehmen. Aber, wenn Sie so wollen, ist die gesamte Black Consciousness-Bewegung davon geprägt. Im Grunde genommen gibt es selbst in Berlin, wenn man über Afrodeutsche spricht, die Frage der Identität, als schwarzer Mensch in Europa zu leben, diese ganze Debatte ist sehr stark durch das Denken Aimé Césaires immer noch geprägt.
Gerk: Susanne Stemmler, vielen Dank für dieses Gespräch! Aimé Césaires Rede "Über den Kolonialismus" ist gerade eben neu aufgelegt worden – aus dem Französischen und mit einem Vorwort und Anmerkungen von Heribert Becker –, im Alexander Verlag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literaturhinweis

Aimé Césaire: Über den Kolonialismus

Kommentiert und aus dem Französischen übersetzt von Heribert Becker
Alexander Verlag, Berlin 2017
120 Seiten, 12,90 Euro

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