Pjotr Pawlenski: "Der bürokratische Krampf und die neue Ökonomie politischer Kunst"
Übersetzt von Maria Rajer
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wladimir Velminski
Merve Verlag, Berlin 2016
128 Seiten, 12 Euro
Dieses Manifest ist mehr als nur "krass"
Pjotr Pawlenski nähte sich den Mund zu, wälzte sich nackt in Stacheldraht und nagelte seinen Hodensack auf dem Roten Platz fest. Mit "Der bürokratische Krampf und die neue Ökonomie politischer Kunst" erscheint nun das Manifest des russischen Künstlers.
Ist Kunst ein Mittel gegen Unfreiheit und Unterdrückung? Auch Pjotr Pawlenski wird man zu der immer größeren Schar derer rechnen können, die mit diesem Medium die Welt verbessern wollen. Denn wie ließe sich die Aktion anders deuten, mit der der 1984 geborene Künstler gegen die Verhaftung der Aktivistinnen von "Pussy Riot" protestierte.
Mit zugenähtem Mund stellte er sich im Juli 2012 vor die Kasaner Kathedrale in St. Petersburg – Metapher für und lebendiges Mahnmal gegen die Zustände in seiner Heimat zugleich.
Das Label "Aktionskünstler", unter dem Pawlenski seitdem firmiert, erfüllt er insofern, als sein eigener Körper Bestandteil des Werks und künstlerisches Medium ist. Er wälzte sich nackt in Stacheldraht, nagelte seinen Hodensack auf dem Roten Platz fest und säbelte sich auf der Mauer einer psychiatrischen Klinik ein Ohrläppchen ab.
Ein poetologisches Programm
Wie die Wiener Aktionisten will er repressive Mechanismen seiner Gesellschaft bloßlegen. Wie die russische Aktionskunst arbeitet er sich an dem Unterdrückungsapparat seiner Heimat ab: Polizei, Zensur, Geheimdienst und Psychiatrie.
Dass Pawlenskis Kunst nicht bloß "krass" ist, wie es häufig zu lesen war, sondern einem poetologischen Programm folgt, belegt nun eine instruktive Materialsammlung. Seine Aktionen zielen zwar auf die russischen Verhältnisse. Im November 2015 etwa zündete er die Tür der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB an.
Wenn er jedoch in dem titelgebenden Manifest schreibt, dass er das "Narrativ der Macht" stören will, ist das auch eine Funktionsbestimmung politischer Kunst schlechthin. Und wenn er deren "Ökonomie der freien Hände" gegen die "Ökonomie der Alltagspflichten" stellt, geht es dem ästhetischen Anarchisten auch um den Kampf gegen politische Apathie.
Pawlenski gelingt es zumindest symbolisch, die Verhältnisse umzukehren. Weil er sich weigert, seine Akte als "Straftat" zu betrachten oder Prozesse vorzeitig zu beenden, macht er Justiz und Strafverfolgungsbehörden zu Mitspielern einer Inszenierung, die den Staat als die "bürokratische Maschine" demaskiert, "die jeden niederknüppelt, der es wagt, den Rahmen des alltäglichen Funktionierens zu verlassen".
"Arbeit im symbolischen Raum"
Zu den interessantesten Passagen in dem Bändchen zählen die drei Verhöre im Jahr 2014, die Pawlenski mit einem Handy aufzeichnete. Mitunter gleichen sie mehr einem philosophischen Streitgespräch als der Vernehmung eines Delinquenten.
Geduldig erklärt er da dem Ermittler, dass seine Aktion "Freiheit", bei der er mit brennenden Autoreifen auf der Petersburger Maly-Konjuschenny-Brücke Solidarität mit dem Maidan-Protest in der Ukraine demonstrierte, kein Vandalismus gewesen sei, sondern "Arbeit im symbolischen Raum".
Die Unfreiheit in Russland hat Pawlesnki mit dieser "Arbeit an den Codes" zwar nicht beseitigt. Doch wie kein anderer Künstler hat er ihre Mechanismen zur Anschauung gebracht.