Reise ins Ungewisse
512 Stunden lang ist die Aktionskünstlerin Marina Abramović in einer Londoner Galerie für ihre Besucher da. Die Gäste erwartet ein leerer weißer Raum und die Künstlerin. Sonst nichts. Ereignis oder Esoterik? Unsere Autorin hat es probiert.
Vielleicht ist die Schlange vor der Serpentine Gallery schon Teil des Rituals: Still und ergeben warten die Leute auf Einlass, und jedes Mal wenn ein Besucher herauskommt, darf der Nächste eintreten. Davor muss er allerdings seine Habseligkeiten abgeben: Handtasche, Handy, Kamera, Uhr und sogar das Jackett. Erst dann ist der Weg frei für eine Begegnung mit Marina Abramović.
"Was wir erwarten? Stille vielleicht, in dieser verrückten Großstadt, und die Gelegenheit, uns auf nichts zu konzentrieren."
"Ich hab keine Erwartungen. Ich hab nur gehört, hier werde wunderbare Kunst angeboten."
"Ich bin neugierig. Was macht sie, diese große Künstlerin? Wie werde ich auf sie reagieren?"
Kein Blickkontakt, keine Sprache
Ewigkeiten später. Ein leerer weiβer Raum. In der Mitte ein kleines Podest, dort stehen ein paar Leute, reglos, ausdruckslos, mit geschlossenen Augen. Soll ich mich dazustellen? Oder lieber durch den Raum wandeln? Jeder scheint mit sich selbst beschäftigt. Kein Blickkontakt. Keine Sprache. Ich habe nichts zum Festhalten. Keine Handtasche. Kein Taschentuch. Hoffentlich muss ich nicht niesen.
Marinas Assistentin drückt mir einen Spiegel in die Hand und flüstert: "Geh langsam rückwärts und schaue in den Spiegel." Ich folge ihr aufs Wort. Fühle mich verunsichert, verletzlich, und ärgere mich schließlich über mich selbst. Warum dieser blinde Gehorsam? Ich lege den Spiegel auf den Boden. Betont langsam, als handle es sich um eine superachtsame Zeremonie. Diesmal muss ich lachen: Warum das Theater? Und für wen?
Warum das Theater? Und für wen?
Und wo bleibt überhaupt Marina? Da drüben ist sie, halb Madonna, halb Maria Callas. Friedvolles Gesicht. Glatte Züge. Marina Abramović flüstert einer Blondine zart ins Ohr. Die Frau zieht ihre hochhackigen Schuhe aus und geht barfuß weiter. Jetzt greift sich Marina einen jungen Mann, und stellt ihn mit dem Gesicht zur weißen Wand. Dann ein Pärchen. ein junges Mädchen. Nur an mir geht sie vorbei. Was muss ich tun, damit sie mich wahrnimmt? Ihr nachlaufen? Sie anstarren? Immer weiter warten? - Oder einfach aufgeben. Aber warum ist diese Frau überhaupt wichtig? Warum will ich überhaupt in ihrem mythomanischen Theater mitspielen?
Zurück in der Welt: zu laut, zu hell, zu voll, zu grün. Drei Stunden war ich in "Marinas Präsenz", genauer: in meinem Gefühlskino. Auch andere Besucher müssen sich erst einmal orientieren. Vielleicht gehört das mit zum Ritual.
"Erst war ich skeptisch, und dann verzaubert. Sie nahm meine Hand und sagte: Danke für dein Vertrauen. Genieβe die Stille und vergiss nicht zu atmen."
"Ich hab echte Kunstwerke erwartet. Stattdessen diese Galerie von Leuten, diese Galerie von mir selbst. Diese Galerie meiner Gedanken. Einfach fantastisch."
Kurz vor ihrer Performance erklärte Marina Abramović, sie sei nervös, denn die Briten könnten sehr zynisch sein. Aber offenbar hat die Künstlerin ja mit dieser Reise ins Unerwartete ein überraschendes Heilmittel gefunden.