Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien

"Man hatte Angst zu Hause zu sein"

3,5 Millionen Deutsche sind alkoholkrank, so das Institut für Sucht- und Präventionsforschung. Für die Kinder bedeutet das eine große Belastung.
3,5 Millionen Deutsche sind alkoholkrank, so das Institut für Sucht- und Präventionsforschung. Für die Kinder bedeutet das eine große Belastung (Symbolfoto). © Unsplash / Annie Spratt
Von Dorothea Brummerloh |
Als Lisa* vier war, warf ihr Vater das erste Mal eine Glasflasche nach ihr. Jahrelang hatte sie Angst zu Hause zu sein. Und sie ist nicht allein: In Deutschland leiden Schätzungen zufolge rund drei Millionen Kinder unter der Alkoholsucht ihrer Eltern.
Lisa* ist 16 Jahre alt. Problemlos würde sie allerdings auch in einen Kinofilm ab 18 kommen. Die junge, propere Frau hat einen festen Händedruck und eine angenehm dunkle Stimme. Man kann sich nicht vorstellen, dass sie sich schnell vor irgendetwas fürchtet. Aber Lisa kennt Angst nur zu gut.
"Dass man Angst hatte, nach Hause zu kommen. Angst hatte, bei einer Freundin zu übernachten, weil man dachte, heute Abend wird er ein Messer ziehen und meiner Mutter etwas antun. Oder man hat einfach Angst jemanden mit ihm alleine zu lassen, aber auch Angst mit ihm allein zu Hause zu sein. Das war das Schlimmste, dass man Angst hatte zu Hause zu sein."

"Dann hat er mich die Treppe runter geschmissen"

Das Leben ihres Vaters drehte sich im Grunde genommen nur um zwei Sachen: Tabletten und Alkohol. Anfänglich hatte sich der suchtkranke Vater noch im Griff, erzählt die Schülerin. Doch er veränderte sich psychisch mehr und mehr.
"Als ich vier war, hat er zum ersten Mal nach mir geworfen mit einer gefüllten Glasflasche, die dann hinter mir an der Wand zersprungen ist. Später fing das dann an, dass er dann auch mal mit Stühlen und Tischen um sich geworfen hat und irgendwann hat er meine Handgelenke genommen und die so fest zusammengequetscht, dass die teilweise zwei, drei Wochen blau waren. Dann hat er mich die Treppe runter geschmissen."

"Das war Psychoterror"

Das Mädchen ertrug die Schläge, versteckte die blauen Flecke hinter langen Pulli-Ärmeln oder Halstüchern. Sie fand sogar noch Kraft für ihre kleine Schwester. Wenn es wieder mal arg zuging im Haus, ist sie zu der sechs Jahre Jüngeren ins Zimmer gegangen, hat einfach den Fernseher lauter gestellt, in der Hoffnung, dass sie so nichts mitbekommt. Einen Grund brauchte der Vater für seine Ausbrüche nicht.
"Er hat einen gesucht und wenn er keinen gefunden hat, dann hat er sich einen eingebildet und dann war er so fest davon überzeugt, dass man dann selber irgendwann glaubte, dass man das gemacht hat, weil das Psychoterror war."
Lisa war viel unterwegs, floh förmlich aus dem Elternhaus - am liebsten auf den Fußballplatz. Dort bolzte sie mit anderen Mädchen, war normaler Teenager. Zu Hause war sie nur …
"… du Fotze, du Miststück, du Dreckstück. Wenn wir bei meiner Mama lagen, meine Schwester und ich, einen Film geguckt haben, dann kam der hoch und hat dann immer mit dem Finger auf uns gezeigt und gesagt: Du bist schuld."
Die Kinder können ihre eigenen Gefühle nicht mehr richtig wahrnehmen

"In dem Moment war ich zu schwach, um irgendetwas zu machen"

Kinder und Jugendliche mit einem psychisch erkrankten Elternteil achten oft nur auf die Gefühle ihrer Eltern. Ihre eigenen können sie irgendwann nicht mehr richtig wahrnehmen. Lisa glaubte, sie sei ein schwacher Mensch, der sich verprügeln lässt.
"Ich habe immer gedacht, ich müsste mich eigentlich wehren. Aber in dem Moment war ich dann zu schwach, um irgendetwas zu machen."
Kinder- und Jugendpsychiaterin Frauke Behrens kennt solche und ähnliche Geschichten aus ihrem Praxisalltag:
"Kinder brauchen, um selber überleben zu können, funktionsfähige Eltern. Wenn Eltern oder Mütter, die psychisch erkrankt sind, jetzt bestimmte Dinge nicht schaffen, reagieren die Kinder oft so, dass sie selber vermuten, dass sie irgendetwas nicht gut genug gemacht haben, dass sie quasi schuld sind, um die Stabilität in der Familie aufrechterhalten."

Bei der Versorgung der Kinder gibt es Defizite

"Ich glaube, die Tendenz ist leider immer noch so, dass oft in der Erwachsenen-Psychiatrie nicht wahrgenommen wird, dass Kinder da sind, die möglicherweise nicht angemessen versorgt werden. Ich glaube, dass eigentlich Partner, Ehepartner, dass die Versorgung von Angehörigen insgesamt sicherlich schon besser geworden ist. Aber die von den Kindern noch nicht."
Frauke Behrens ist mit ihrer Einschätzung nicht allein. Auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. kritisiert die unzureichende Unterstützung dieser Kinder. Zwar gibt es lokale Projekte und ehrenamtliche Initiativen, aber das genügt nicht.
Erschwerend kommt nach Meinungen von Experten hinzu, dass sowohl die Jugend- und Familienhilfe als auch das Gesundheitswesen gefordert sind. Man müsste also bereichsübergreifend arbeiten.
(mw)
* Die Namen der Protagonisten wurden auf Wunsch geändert.
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