Aus is'!
Am 27. Juni will der Energieriese E.ON das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld abschalten - bekannt auch als Schauplatz des Jugendbuchs "Die Wolke" über einen fiktiven Reaktorunfall. Ein Rückblick auf 34 Jahre Reaktorgeschichte und seine Gegner.
Die beiden dampfenden Kühltürme in der Ferne – eine gewohnte Kulisse für Andreas Mack, kein bisschen furchteinflößend.
"Ich bin halt mit dem Kernkraftwerk aufgewachsen. Ich bin 25 Jahre alt, komm' aus Grafenrheinfeld, lebe in Grafenrheinfeld. Mein Kinder- oder Jugendzimmer hatte Blick hinten auf das Kernkraftwerk. Also, ich hab' jeden Abend um 22 Uhr die Sirene gehört, also wenn Schichtwechsel war, und früh um sechs, wenn neuer Arbeitsbeginn war. Wie die Kirchglocken. Die Kirchenglocken hab' ich nicht so gehört wie die Sirene vom Kernkraftwerk."
Angst spürte Mack in all diesen Jahren nie. Von klein auf profitierte der 25-Jährige von dem Wohlstand, den der Reaktor dem 3400-Einwohner-Dorf am Main bescherte.
"Wir haben ne perfekte Schule, Bibliothek – derweil ich jetzt nicht so die Leseratte bin – aber ja, gibt es. Skaterplätze – also von der Gemeinde wurde, durch die Gewerbesteuer begünstigt, extrem viel gemacht. Wir haben wunderschöne Kirchen, Straßen, Supermärkte, also das ist alles schon auf ziemlich hohem Standard."
Mack trägt ein leuchtend blaues Poloshirt mit dem Logo seines Familienbetriebs. Gemeinsam mit seinem Vater ist der junge Sanitär- und Elektromeister als Pionier für regeneratives Heizen und Fernwärme unterwegs. Ausgerechnet im Atom-Dorf Grafenrheinfeld. Wo früher Kies und Sand auch für den Bau des Atomkraftwerks produziert wurden, lassen die Macks seit einem halben Jahr Berge von Hackschnitzeln für ihre Heizwerke trocknen.
Mit der großen sanierten Lagerhalle und eigenem Wald gewährleistet der Familienbetrieb den Kunden Rohstoff-Sicherheit. Den gut 300 Jahre alten Dorfkern mit Kirche, Gemeindebücherei und Traditionsgasthaus Alte Amtsvogtei versorgt das Unternehmen inzwischen mit Wärme aus einem Hackschnitzel-Doppelkessel.
Andreas Mack öffnet ein Hoftor, den Zugang zum Dorf-Heizwerk.
"Das war der ehemalige Pfarrergarten, da haben wir so was integriert, und von hier aus gehen wir mit den Leitungen in die Ortschaften. Auch der Kindergarten hängt drauf ..."
Die Energiewende im Heizungskeller – Grafenrheinfeld exerziert sie vor. Doch mit dem Atomausstieg ist Gerhard Riegler als stellvertretender Bürgermeister trotzdem nicht einverstanden. Mit dem unterfränkischen Reaktor, den beiden Blöcken im schwäbischen Grundremmingen und Isar 2 im niederbayrischen Ohu gehen bis 2022 in Bayern gleich vier Meiler vom Netz. Windstrom von der See könnte über die Suedlink-Stromtrasse zum Endpunkt Grafenrheinfeld transportiert werden, doch dazu sagt Ministerpräsident Seehofer von der CSU Nein. Zum Verdruss seines Parteifreundes Riegler.
"Ja, da hab' ich ne ganz andere Meinung, genau wie bei der Abschaltung vom Kernkraftwerk, da kann ich nicht auf seiner Wellenlänge sein, das geht einfach nicht. Da hat er meiner Meinung nach einen großen Fehler gemacht, so schnell die Anlagen abzustellen. In der Tschechei lassen sie ihre Kernkraftwerke länger laufen, nur damit in Bayern der Strom nicht ausgeht."
ABC-Alarm in Schlitz
So schnell? Jeder Tag Restlaufzeit ist einer zu viel, denken andere. Blick ins Jugendbuch "Die Wolke", den Anti-Atom-Roman von 1987. Begonnen im Jahr der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl. Geschrieben von Gudrun Pausewang, einer der bedeutendsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen.
Sprecher: "An diesem Freitagmorgen wehte eine starke Brise. Wenn Janna-Berta aus dem Fenster schaute, sah sie die jungen Birkenblätter in der Sonne glitzern. Die Schatten der Zeiger zitterten auf dem Asphalt des Schulhofs. Der Himmel war tiefblau."
Das klingt nach Bullerbü-Idylle. Doch Schlitz ist nicht Bullerbü. Und Gudrun Pausewang nicht Astrid Lindgren. Statt Kinderstreichen ABC-Alarm, A für Atomunfall. Statt Picknick kopflose Flucht. Das osthessische Schlitz liegt in der 100-Kilometer-Zone um Grafenrheinfeld, eines der größten deutschen Kernkraftwerke.
"Das geht los in dem ehemaligen Gymnasium meines Sohnes in Fulda. Ich habe einfach gedacht, wie wäre es, wenn jetzt plötzlich aus dieser Schule die Schüler flüchten müssten. Und da habe ich dann die Hauptperson in Schlitz wohnen lassen, in meinem eigenen Haus."
Nachdem der Meiler Grafenrheinfeld explodiert ist, versuchen die 14-jährige Janna-Berta und ihr kleiner Bruder, der radioaktiven Wolke auf dem Rad zu entkommen. Die Eltern sind auf einer Tagung im unterfränkischen Schweinfurt. Das ist die Industriestadt fünf Kilometer Luftlinie vom Reaktor.
Sprecher:"'Wenn’s ein Super-Gau war, kannst du den Katastrophenschutz vergessen', hörte sie den Jungen hinter sich sagen. 'Dann brauchen die in Schweinfurt nur noch Totengräber und Spezialisten für Transplantationen von Knochenmark.'"
Vor 28 Jahren hat das die hessische Kinder- und Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang geschrieben. Ende 50 war die frühere Lehrerin da. Heute ist die 87-Jährige Schirmherrin für das große "Abschaltfest", das die Schweinfurter gemeinsam mit den Bewohnern des umliegenden Landkreises auf dem Marktplatz feiern.
"Und sie ist eben angekommen, sitzt hier am Stand und signiert Bücher. Ganz, ganz herzlich willkommen, Frau Pausewang!" (Beifall)
An diesem frühen Sonntagvormittag fällt der Applaus dünn aus. Noch rennen nur die drei Dutzend Organisatoren der Anti-Atom-Bürgerinitiativen kreuz und quer übern Schweinfurter Marktplatz.
"Mal ganz kurz: Habt ihr eure Pommes? Fritteusen sind schon da?"
Pommes-, Getränke-, und Kuchenstände sind fast fertig aufgebaut. Hubert Lutz, Zwei-Meter-Mann und seit zwei Jahrzehnten Vorsitzender der zur "BA/BI" fusionierten Bürgeraktion und Bürgerinitiative gegen Atomkraft, hat alles im Blick. Seine Mitstreiter stellen die Platzmitte mit Biertischgarnituren für 15.000 Besucher zu. Mehr als doppelt so viele werden sich später dort drängeln. Der Endfünfziger im roten Kurzarmhemd organisiert eine Pommes-Schüssel und erzählt dabei von den Anfängen des Kraftwerkbaus. Im Sommer 1969 verkaufte die Gemeinde Grafenrheinfeld gemeinsam mit Privatbesitzern der damaligen Bayernwerk AG fast 50 Hektar Gelände für den Reaktorbau.
"Als die Idee aufkam, war ich in etwa 15 Jahre alt. Da habe ich gerade eine Elektrikerlehre hier in der Großindustrie begonnen."
Schweinfurt, deutsches Zentrum der Kugellagerproduktion, über 5000 Einwohner und über 50.000 Arbeitsplätze. Eine Kleinstadt mit dem Energiehunger einer Metropole, bis heute. Dagegen, dass dieser Hunger durch nukleare Spaltung befriedigt werden sollte, macht der Stadtrat massiv Front.
"Ich sach mal, spätestens mit 17, 1974, da habe ich an den ersten Demonstrationen teilgenommen und seitdem bin ich eigentlich überzeugter Atomkraftgegner",
bekennt Hubert Lutz, inzwischen diplomierter Psychologe. Ein Jahr zuvor, 1973, hatte die Bayernwerk AG den Bau beantragt. Als der junge Elektriker anfängt, mit zu demonstrieren, ist der Meiler schon genehmigt. Unter einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister klagt Schweinfurt dagegen, die Bauarbeiten ruhen. Doch das Verwaltungsgericht Würzburg schmettert die Klage der Stadt gegen das AKW Grafenrheinfeld später ab.
"In Betrieb gegangen ist es 1981. Dass man das jetzt so nicht hat verhindern können, war schon auch bitter. Aber davon haben wir uns nicht entmutigen lassen. Von Anfang an hat die Anti-Atom-Bewegung auch Erfolge gehabt, indem man sicherlich einige Sicherheitsstandards erreicht hat, die so sonst nicht da wären."
Verhindert hat der massive Widerstand, dass das AKW Wyhl am Kaiserstuhl und später die Wiederaufarbeitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf fertiggestellt wurden. Die WAA-Baustelle war nach Tschernobyl zunächst zur Festung ausgebaut worden.
(Klingeln) "Lutz – Von wem? Ah, von der Feuerwehr – ah, Sie sind schon da!"
Das Handy hat geklingelt. Der BA/BI-Chef muss sich erstmal um die Brandsicherheit des Abschaltfests auf dem Schweinfurter Marktplatz kümmern. An spaltbarem Material gibt’s da außer Bratwurst wenig, das macht es einfach.
"Wiederhören, Tschüs!"
Alternative für ein rohstoffarmes Land
Genehmigt und gebaut wurde das heutige E.ON-Kraftwerk Grafenrheinfeld unter den bayerischen Ministerpräsidenten Goppel und Strauß, CSU. Gebilligt von sozialdemokratischen Kanzlern und deren sozialliberalen Koalitionen, merkt der emeritierte Maschinenbau-Professor und Sozialdemokrat Herbert Wiener an, Gründungsmitglied der BA/BI und später als Zeitzeuge auf der Bühne vorgesehen.
"Auch Willy Brandt und Helmut Schmidt haben geglaubt, für unser rohstoffarmes Land ist die nukleare Energieerzeugung eine Alternative. Helmut Schmidt hat's ja immer noch geglaubt, als es die ersten großen Unfälle gab. Und dann erst mit Jochen Vogel kam die Wende, dass die SPD sich bundesweit dann besonnen hat, dass das doch eine Technologie ist, die nicht beherrschbar ist."
Der Reaktorunfall von Tschernobyl am 26. April 1986 verursacht die Atomwende der oppositionellen Sozialdemokratie. Atomausstieg innerhalb eines Jahrzehnts wird die neue Devise. Die Grünen verlangen den Sofort-Stopp und legen in der Bürgergunst zu. Bei Hamburg nimmt man im Herbst das umkämpfte Atomkraftwerk Brokdorf in Betrieb. Rund ums bayrische Grafenrheinfeld formiert sich der zwischenzeitlich ermattete Widerstand neu.
"Das ist der Punkt gewesen, wo ich eingestiegen bin",
erzählt Gaby Gehrold, blonde Löwenmähne, mit gelben Atomkraft-nein-danke-Buttons auf komplett schwarzer Kleidung und gelbem Aufkleber auf schwarzer Umhängetasche. Auffälliger geht das Nein zur Atomkraft kaum.
"Ich komm' eigentlich von Greenpeace her und hatte zwei kleine Kinder, Dreivierteljahr und ein Jahr alt, die an diesem Wochenende, als dann der Fall-out war, im Garten über den Rasen gerobbt sind, den ganzen Tag. Alle haben sie gesagt, es is nix, es is nix, es hat dann geregnet in der Nacht – das hat unser Leben wirklich sehr verändert."
Die "Bürgerinitiative gegen Atomanlagen" entsteht, fusioniert kurz darauf mit der Bürgeraktion. Die neue "BI/BA" organisiert fortan über fast drei Jahrzehnte hinweg Strahlenmessungen, Groß-Demos und Mahnwachen. Mit dem Jugendbuch "Die Wolke" bekommt der Protest 1987 literarischen Rückenwind. Tschernobyl in Grafenrheinfeld. Mit GAU-Szenarien hatte sich die vormalige Lehrerin Gudrun Pausewang schon länger beschäftigt.
"Ich habe schon in den 70er-Jahren – ich kam Ende 1972 aus Südamerika nach Deutschland zurück – und da habe ich Bücher vom Club of Rome gelesen."
Den Bericht über "Die Grenzen des Wachstums" hatte die multinationale Organisation da gerade veröffentlicht,
"und da ist mir klar geworden: Wir sind unter Umständen dabei, uns selber auszurotten. Das war meine Motivation zu warnen. Das Buch ist eine Warnung vor dieser Gefahr."
Das verseuchte bayrische Molkepulver ist noch nicht vergessen, verstrahltes Wild und belastetes Freilandgemüse sind Thema. Da lenkt diese kleine, graublonde Frau mit dem anspruchslosen Kurzhaarschnitt die Augen der gesamten bundesdeutschen Öffentlichkeit auf Schweinfurt und das AKW Grafenrheinfeld. Ihr Buch bekommt gegen den Widerstand des damaligen Bundesinnenministers Zimmermann von der CSU den Jugendliteraturpreis. Es avanciert zur Klassenlektüre für ganze Generationen von Acht- und Neuntklässlern. Den 14-Jährigen erspart der Roman nichts. Die gleichaltrige Protagonistin hört Dialoge wie diesen mit:
Sprecher: "Aus dem Absperrgürtel um Schweinfurt kommt keiner mehr lebend raus. Wenn ihn die Radioaktivität nicht umbringt, dann das Militär. Die werden die stark Verseuchten mit Gewalt daran hindern, sich unter die Davongekommenen zu mischen."
Sprecherin: "Du spinnst. Die können die Leute doch nicht wie Hasen abknallen."
Sprecher: "Wenn’s ums nackte Überleben geht, fällt die Zivilisationstünche ab."
Sprecherin: "Janna Berta war hellwach geworden. Sie sah ihren Vater vor dem Mündungsfeuer der Maschinengewehre, sah ihn schreien und fallen.
"Ja, hab' ich gelesen, in der siebten Klasse, und in der achten als Schullektüre haben wir’s dann nochmal gelesen, weil’s ja auch in der Nähe spielt",
erinnert sich Clara Lutz. Gemeinsam mit ihren beiden Schwestern hilft die 19-jährige Tochter des "BA/BI"-Chefs, das Abschaltfest vorzubereiten. Und sagt über Pausewangs "Wolke":
"Ja, es war schon ein Schock, auch dann zu lesen, wie das so passiert, und dass die Leute, die in den Zonen",
den Evakuierungszonen, die der Katastrophenschutz vorsieht,
"dass die, die nicht gleich sterben, dann noch erschossen werden, das fand ich schon krass, muss ich schon sagen."
Angst soll man nicht verteufeln
"Stimmungsmache auf unterstem Niveau", merkte E.ON Sprecherin Petra Uhlmann in einem Interview zum Tschernobyl-Jahrestag 2006 an. Da kommt der Film zum Buch in die Kinos. Die Reaktorkatastrophe von Fukushima katapultiert den Anti-Atom-Roman 2011 erneut in die Bestsellerlisten. Die über 80-ährige Autorin ist als Interviewpartnerin wieder gefragt. Die Sprecherin des AKW-Betreibers E.ON bleibt bis heute bei ihrer Position: Das "Wolke"-Szenario liege fernab jeglicher Realität.
Sprecherin: "Solche Kernkraftwerke wie die in Fukushima wären in Deutschland niemals genehmigt worden",
mailt Uhlman auf Anfrage. Die E.ON Schelte – in den Augen der AKW-Gegner der Ritterschlag für Gudrun Pausewang. Sie empfangen die hessische Autorin wie eine der ihren:
"Gut, dass Sie da sind, Frau Pausewang, ich habe nämlich in den 80er-Jahren, als meine Kinder klein waren, schon alle Ihre Bücher gelesen."
"Sie sind der Zeit voraus."
"Ja, kann sein."
Gudrun Pausewang zuckt die Schultern. Angst nicht zu verteufeln, sondern als schützende Empfindung ernst zu nehmen, ist ihre Botschaft. Irgendwie zeitlos. Die Terror-Gefahr war beim Erscheinen des Anti-Atom Romans noch kein Thema. Seit dem 11. September 2001 ist das anders. Ein Anschlag aufs AKW oder die abgebrannten Brennstäbe, die mangels Endlager in Castoren an den Reaktoren zwischengelagert werden? In den Augen von E.ON keine realistischen Szenarien.
Sprecherin: "Wenn diese Szenarien in Deutschland nach menschlichem Ermessen wahrscheinlich wären, würde keine Aufsichts- und Genehmigungsbehörde den weiteren Betrieb deutscher Kernkraftwerke zulassen. Wir weisen regelmäßig nach, dass der GAU ausgeschlossen ist. Auf dieser Grundlage basieren unsere Betriebsgenehmigungen. Unsere Kernkraftwerke und Zwischenlager sind sicher. Das wurde bereits von verschiedenen Verwaltungsgerichten bestätigt."
Schreibt E.ON-Sprecherin Uhlmann. Doch jetzt verbuchen Pausewang und die Protestbewegung den entscheidenden Etappensieg: "Aus is'", ruft ein Grünen-Politiker von der Bühne auf dem Schweinfurter Markt, und die Band singt auf die Melodie von Nina Hagens größtem DDR-Hit, den Farbfilm-Song:
Am 27. Juni – das hat E.ON inzwischen offiziell bekannt gegeben. Zum zweiten Mal verschoben, aber immerhin ein halbes Jahr vor dem neuen gesetzlichen Abschalttermin. Dann sind die Brennstäbe abgebrannt, sie für eine kurze Restlaufzeit auszutauschen, wäre unwirtschaftlich, zumal dafür zusätzlich die Brennelemente-Steuer anfiele. 4000 Schweinfurter, Bergrheinfelder und Schwebheimer sind gekommen, um zu feiern. Die Dächer von Bühnen und die Ständen auf dem Marktplatz haben Gaby Gehrold und ihre Mitstreiter fürs Fest mit einer 80-Meter-Bahn umspannt, zusammengenäht aus gelb gefärbten Bettlaken.
"Das gelbe 'Störfallbanner', oder wir sagen 'das gelbe Band'",
das seit mehr als 30 Jahren auf jeder Demo mitgeschleppt wird. Die "BA/BI" hat darauf mit schwarzem Permanent-Stift alle 234 "meldepflichtigen Ereignisse" verzeichnet. Fehlstart von Notstromgeneratoren, Pumpen-Ausfälle. Unregelmäßigkeiten, von einem Störfall aufgrund des engmaschigen Sicherheitsnetzes weit entfernt, versichert der AKW-Betreiber E.ON – auch für die sieben Schnellabschaltungen, bei denen der Reaktor automatisch herunterfuhr. Das Haus der Geschichte zeigt schon Interesse am "Störfallbanner". Doch die "BA/BI" hält es längst nicht für museumsreif.
Gehrold: "Noch schreiben wir weiter, es ist ja nichts zu Ende."
Wirner: "Wo ist denn die richtige Dose, ich such' unsere Dose, Gaby!"
Erika Wirner hängt sich eine Papprolle über die Schulter. Damit will die zierliche 74-Jährige in der Menge sammeln gehen. Mit 100.000 Euro war die Bürgerinitiative zeitweise verschuldet, weil sie Privatkläger gegen das AKW finanziell unterstützte. Inzwischen ist die "BA/BI" schuldenfrei, doch Geld braucht sie dringend.
"Ja, natürlich, es geht ja weiter, wir können ja nicht still stehen. Wir haben so viel da draußen noch zu tun und dazu brauchen wir wieder Geld, also müssen wir heute einfach mit der Dose klappern."
Um E.ON bei Stilllegung und Abriss weiter auf die Finger zu schauen, sagt die Seniorin. Die Gebäude und die Betonteile seien ja meist gar nicht radioaktiv, merkte jüngst BayernsUmweltministerin Ulrike Scharf von der CSU an. Man spreche von weniger als fünf Prozent der Bausubstanz. Doch Hubert Lutz, Vorsitzender der Schweinfurter "BA/BI", beäugt den bevorstehenden Rückbau mit Argwohn:
"Die Betreiber stellen sich da natürlich günstige Lösungen vor, dass man schwach radioaktiv verstrahlte Materialien, zum Beispiel Beton, gegebenenfalls einfach nur vermischt, so lange mit anderen unverstrahlten Materialien vermischt, bis man Grenzwerte unterschreitet und das dann einfach wieder in die Umwelt ausbringt. Und das kann ja nicht Sinn der Sache sein. Da sind wir vehement dagegen."
Im Hintergrund dichtet die Band den Refrain des DDR-Farbfilm-Hits weiter atomkritisch um:
"Du hast den Restmüll vergessen, mein Gabriel …"
Und genau das dämpft die Feierlaune mancher auf dem Marktplatz,
"dass die Halbwertzeit ja Jahrtausende braucht, bis es unwirksam ist. Aber ich finde es gut, ein Anfang ist gemacht."
Aber eben auch nicht mehr, meinen viele. Genau deshalb sammeln die Aktivisten neben Geld auch weiter Unterschriften. Nicht mehr wie anfangs gegen den Einstieg. Sondern fürs beschleunigte Abschalten der restlichen acht AKW bundesweit und einen Atomausstieg, den die Energiekonzerne und nicht die Steuerzahler finanzieren sollen. Jochen Stay wirbt am Stand der bundesweit aktiven Organisation "Ausgestrahlt" fürs Unterschreiben.
"Na, hier geht’s darum, dass es einen großen Streit darum gibt, ob eigentlich die Folgekosten der Atomkraft auch wirklich von denen bezahlt werden, die Milliarden damit verdient haben, von E.ON, RWE und Co. Oder ob das am Ende bei den Steuerzahlern hängenbleibt. Wir erleben ja gerade, dass sich zum Beispiel E.ON aufspaltet, und seine Kohle- und Atomsparte ausgliedern will, und dann aber auch nicht dafür haften will, wenn das Geld, das zurückgestellt wurde für den Abriss und die Atommülllager, nicht reichen sollte. Und dagegen wehren wir uns und sagen nein, das müssen auch die zahlen, die die ganze Zeit verdient haben."
Die Mainberger Kapelle bläst der Politik und den Energiekonzernen den Marsch, die Frauen im Dirndl, die Männer in Knickerbockern und rotem Wams. Atomausstieg auf bayrisch. In Schweinfurt stundenlang von Tausenden heftig gefeiert. In Grafenrheinfeld von den wenigsten.
Wo ist der Dampf hin?
Andreas Mack, der Junior-Fernwärme-Pionier, steht vorm Hackschnitzellager und blickt über die Felder auf das Atomkraftwerk, das ihn nie gestört hat. Wenn er am letzten Juni-Sonntag am Tag nach der Abschaltung aufwacht, fragt sich der 25-Jährige beim Blick aus dem Fenster wohl:
"Was ist passiert, wo ist der Dampf hin? Weil, wenn ich auf die Kühltürme schaue jeden Tag, weiß ich, wie am nächsten Tag das Wetter wird. Des ist dann weg."
Am Montag darauf wird der Rettungssanitäter Gerhard Riegler wie jeden Tag zur Arbeit ins Kraftwerk radeln, Belastungs-EKGs und Strahlenschutzuntersuchungen vornehmen. 90 von 300 Arbeitsplätzen will E.ON bis Ende 2016 abbauen. Damit naht für den 60-Jährigen das Ende der Berufslaufbahn, verbunden mit finanziellen Einbußen.
"Ja, ich geh' in Vorruhestand, wenn mein Chef mich lässt."
Stellvertretender Bürgermeister von Grafenrheinfeld bleibt Riegler im Ehrenamt. Dass es "aus is'" mit dem Atomkraftwerk, wird den CSU-Politiker deshalb weiter beschäftigen. Mit großem Gewerbegebiet und soliden Unternehmen sieht er sein Dorf für die postatomare Zukunft gerüstet.
"Deshalb sehen wir hier in Grafenrheinfeld nicht schwarz. Aber zehn Millionen Gewerbesteuer im Jahr für den ganzen Landkreis Schweinfurt – das muss man sich erstmal irgendwo anders herholen."
Die Kindergarten-Gebühren hat Grafenrheinfeld schon mal erhöht.