Noch ein kurzer Austausch mit einem Bürger, dann ist Igor Gogora bereit für unser Treffen. Kisten stapeln sich an den pastellgelb gestrichenen Wänden seines Büros. Auf dem breiten Schreibtisch liegt nicht ein einziges Blatt Papier.
„Der Raum ist noch recht leer, weil heute mein erster Tag in diesem Büro ist. Wir haben frisch gestrichen und alte Unterlagen aus den Schränken entfernt. Es ist quasi komplett neu“, sagt er.
Acht Jahre lang arbeitete Gogora als Beamter im Rathaus von Kalna nad Hronom in der westlichen Slowakei. Vor ein paar Wochen erst wurde er mit gerade einmal 18 Stimmen Vorsprung zum neuen Bürgermeister des Dorfes gewählt.
Igor Gogora ist Bürgermeister der Gemeinde Kalna nad Hronom, in der das AKW Mochovce steht.© Deutschlandradio / David Ehl
Angetreten ist er mit konkreten Visionen für seine Gemeinde: „In meinem Wahlprogramm stehen 25 große Punkte und ein paar kleine – zum Beispiel will ich Bäume pflanzen, denn der Klimawandel wird zum Problem.“
Mit Atomkraft gegen die Klimakrise
Umfragen zufolge spüren die meisten Slowakinnen und Slowaken die Auswirkungen der Klimakrise in ihrem Alltag. Auch deshalb befürworten viele von ihnen die Atomkraftwerke, die mehr als die Hälfte des slowakischen Stroms produzieren.
Kalna nad Hronom ist eine der beiden Atom-Gemeinden der Slowakei: Hier steht das Kraftwerk Mochovce. In der unmittelbaren Nachbarschaft halten 43 Prozent der Bevölkerung die Reaktoren sogar für die bevorzugte Waffe im Kampf gegen die Klimakrise, hieß es in einer Umfrage im Auftrag der Betreiberfirma Slovenske Elektrarne. Auch Bürgermeister Igor Gogora sieht es so.
Ich kann generell sagen: Wir Slowaken vertrauen Atomkraftwerken. Wir halten sie für sicherer als Wasser-, Solar- oder Windenergie.
Igor Gogora, Bürgermeister
Schließlich seien Wind und Sonne nicht immer verfügbar. Staudämme und Windräder bedeuteten einen Eingriff in die Ökosysteme. An die Atomkraft hat man sich in Kalna nad Hronom hingegen längst gewöhnt. Igor Gogora hat die Vision, das Dorf künftig auch mit Fernwärme aus dem Kraftwerk zu heizen.
Zuvor will der Bürgermeister kleinere Projekte mit der Betreiberfirma umsetzen: „Ich möchte mit ihnen zusammenarbeiten. Aber mal abwarten. Zum Beispiel will ich einen Radweg zwischen dem Kraftwerk und unserem Dorf bauen
Keine Besichtigung des AKW Mochovce möglich
Das Atomkraftwerk Mochovce liegt in einer Senke, auf dem benachbarten Hügel pfeift der Dezemberwind. Ein geplanter Pressetermin im Kraftwerk wurde von der Betreiberfirma immer wieder auf unbestimmt verschoben, sodass für diese Reportage nur der Blick aus der Ferne bleibt.
Reinhard Uhrig schützt sich vor der Kälte – mit Handschuhen, schwarzer Wollmütze und einer neongelben Windjacke mit dem Logo seiner österreichischen Umweltschutzorganisation Global 2000. Der Anti-Atomkraft-Aktivist führt auf das schneebedeckte Feld an einer Landstraße. Von hier oben kann man das gesamte, mehr als zwei Kilometer breite Areal überblicken: Eine rote und eine orangene Halle im Zentrum, in denen je zwei Reaktoren Platz finden. Sie sind eingerahmt von je vier Kühltürmen. Aus den rechten Kühltürmen steigt dichter Dampf auf in den wolkenlosen Himmel.
„Auf der linken Seite die Kühltürme sind still. Da ist nichts, weil dieser Reaktor drei und vier eben nicht läuft. Auch 36 Jahre nach Baubeginn nicht“, erklärt Reinhard Uhrig.
Wie lange stehen die Kühltürme eigentlich schon? „Die gesamte Bausubstanz besteht und rottet seit den späten 80er- und frühen 90er-Jahren hier vor sich hin. Das ist de facto das einzige Atomkraftwerk auch in diesem Zustand, wo die Alterung schon vor Inbetriebnahme weit fortgeschritten ist“, erzählt der Aktivist.“
37 Jahre Bauzeit, Kosten von knapp sechs Milliarden Euro
Schon zu Zeiten der Tschechoslowakei wurde mit dem Bau der Reaktorblöcke 3 und 4 begonnen, Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart. Zwischen der Samtenen Revolution Ende 1989 und der Unabhängigkeit der Slowakei 1993 ging das Geld für das Projekt aus.
Der österreichische Aktivist Reinhard Uhrig vor dem AKW Mochovce: „Man müsste de facto die Anlage dem Erdboden gleichmachen und vollkommen neu bauen."© Deutschlandradio / David Ehl
Erst nach dem Einstieg eines italienischen Investors ging es 2008 weiter. Inzwischen summieren sich die Baukosten für beide neuen Blöcke auf 5,7 Milliarden Euro.
Die Technik sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit, kritisiert Reinhard Uhrig: „In den 1970er-Jahren hat sich niemand Gedanken gemacht über Terrorangriffe. Insofern ist diese Anlage, die wir auch hier direkt vor uns sehen, nicht geschützt gegen Flugzeugabstürze.“
Die Europäische Kommission hat vorgeschrieben, dass die Anlage zumindest auf den Minimalstandard in Europa gebracht werden muss, also den Absturz von einer kleineren Verkehrsmaschine. Was sie gemacht haben, ist riesige Stahlnetze aufzustellen, die dann Flugzeuge aufhalten sollen, was natürlich vollkommen lächerlich ist.
Reinhard Uhrig, Aktivist
Formell ist der EU-Forderung jedoch mit den Stahlnetzen genüge getan. Dazu kämen aber noch unzureichender Erdbebenschutz und weitere bauliche Probleme, sagt Uhrig. „Also alles Punkte, die nicht reparierbar sind. Man müsste de facto die Anlage dem Erdboden gleichmachen und vollkommen neu bauen.“
Slowakische Atomaufsicht erteilt Betriebsgenehmigung
Die Umweltschutzorganisation Global 2000 machte mithilfe von Whistleblowern zahlreiche Baumängel öffentlich und versuchte, die Inbetriebnahme juristisch zu verhindern. Doch letztlich erfolglos: Im August erteilte die slowakische Atomaufsicht eine Betriebsgenehmigung für Block 3. Seit September wird der Reaktor allmählich hochgefahren.
Eigentlich sollte mittlerweile bereits Strom ins Netz eingespeist werden. Dazu kommt es nun frühestens Ende Januar, nachdem die Betreiberfirma Schwierigkeiten einräumen musste.
„Der letzte Zwischenfall bei der Inbetriebnahme von Reaktor 3 war, dass im oberen Teil des Reaktordruckbehälters also wirklich im Kernstück des Atomreaktors, in dem eben auch der Atombrennstoff drin ist, es zu Undichtigkeiten gekommen ist, was in einer so späten Phase der Inbetriebnahme einfach nicht der Fall sein darf“, sagt Reinhard Uhrig.
Auf mehrere Anfragen zur Sicherheit des Reaktors wollte sich der Betreiber Slovenske Elektrarne bis zur Sendung dieses Beitrags nicht äußern. Mit dem weiteren Hochfahren von Mochovce 3 wird die Slowakei erstmals zum Netto-Exporteur – das heißt, sie produziert mehr Strom, als sie selbst verbraucht.
Und dann klappt plötzlich doch noch ein Kurzbesuch im Reaktor – zumindest beinahe. Das „Energoland“ ist das Besucherzentrum direkt neben dem Haupteingang des Kraftwerks Mochovce, kaum 100 Meter vom laufenden Reaktor entfernt. Hier werden immer wieder Schulklassen hindurchgeführt. An diesem Nachmittag ist die Ausstellung komplett menschenleer.
Durch ein großes Fenster im ersten Stock hat man ungehindert Sicht auf die benachbarte Kraftwerkshalle. „Hier ist tatsächlich niemand, der uns hindern würde, Fotos zu machen. Das ist auch einigermaßen crazy“, sagt Reinhard Uhrig.
Argumente pro Atomkraft – nicht ohne Fehler
Die Ausstellung selbst befasst sich vor allem mit den Argumenten für Atomkraft. Als ich die Sprecherin von Slovenske Elektrarne mit einer offensichtlich falschen Information zur CO2-Bilanz der Atomkraft konfrontiere, sagt sie, es handele sich um einen Fehler in der Ausstellung, der umgehend korrigiert werde.
Einer der einflussreichsten Atomkraftexperten der Slowakei ist Vladimir Slugen. Zum Interview sitzen wir in seinem Büro in der Technischen Universität Bratislava, wo er als Professor für Kernenergietechnik die Ingenieure von morgen ausbildet. Slugen ist auch Mitglied eines Expertenbeirats, der zur Inbetriebnahme von Mochovce 3 berät.
„Dort sind Tausende mögliche Probleme, und wenn nur zwei, drei rauskommen und eine Verzögerung verursachen: Ja, es ist schade. Es kostet Geld, Aufwand und so weiter. Aber Sicherheit hat höchste Priorität und dafür müssen wir zahlen“, sagt er.
Vladimir Slugen bildet als Professor für Kernenergietechnik in Bratislava die Ingenieure von morgen aus.© Deutschlandradio / David Ehl
Sicherheitsbedenken wegen der langen Bauzeitunterbrechung lässt Slugen nicht gelten – schließlich sei die Baustelle konserviert worden, in die Jahre gekommene Bauteile seien ausgetauscht worden.
„In Kernkraftwerk kann man fast alles ändern, zumindest im sekundären Kreislauf und auch im Primärkreislauf: Mal abgesehen vom Reaktordruckbehälter, das ist sozusagen das Herz, den Rest kann man austauschen“, sagt er.
Defekte Dichtung sorgte zuletzt für Verzögerung
Der jüngsten Verzögerung lag schließlich doch ein Problem mit einer Dichtung am Deckel dieses Druckbehälters zugrunde. Dieser muss dauerhaft einem Druck standhalten, der 126-mal so hoch ist wie der normale Luftdruck auf der Erde. Sonst könnten radioaktives Wasser oder Wasserdampf austreten.
Es wurde entschieden, noch einmal die Dichtungen zu überprüfen, um 100-prozentige Sicherheit zu haben, dass es wirklich in Ordnung ist. Ich schätze das hoch, dass sie diese Entscheidung so getroffen haben, trotz des zeitlichen und finanziellen Drucks. Sicherheit hat höchste Priorität – dafür ist es gut, auch wenn wir zwei Wochen verlieren.
Vladimir Slugen, Professor für Kernenergietechnik
Die Verzögerungen bringen die Betreibergesellschaft Slovenske Elektrarne wirtschaftlich in große Bedrängnis: Der Strom aus Mochovce 3 ist bereits verkauft – solange der Reaktor nicht läuft, muss Strom zu den momentan sehr hohen Preisen auf dem Markt beschafft werden.
Betreiberfirma gibt keine Auskunft
Slovenske Elektrarne ist bereits hoch verschuldet und hat kaum noch Spielraum bei neuen Krediten. Je ein Drittel von Slovenske Elektrarne gehört Investoren aus Italien und Tschechien, das letzte Drittel kontrolliert die slowakische Regierung.
Ein möglicher Bankrott auf dem Höhepunkt der Energiekrise hätte wohl kaum absehbare Folgen, zumal die Regierung nach einem Misstrauensvotum nur noch geschäftsführend im Amt ist.
Auch eine Anfrage zur finanziellen Situation des Betreiberkonzerns wollte die Sprecherin von Slovenske Elektrarne nicht beantworten. Sie verwies auf laufende Verhandlungen mit der slowakischen Regierung.
Wenn Mochovce 3 läuft, würde der Anteil der Atomkraft in der Slowakei von 52 Prozent auf 65 Prozent steigen. Das wäre dann der zweithöchste Anteil an Atomstrom gleich hinter Frankreich.
Marianne Allweis, ARD-Korrespondentin in Prag für die Slowakei und für Tschechien, im "Weltzeit"-Interview
Die slowakischen Atomkraftwerke sind noch auf einer weiteren Ebene in die Aufmerksamkeit der internationalen Politik gerückt. Bei Youtube sind diese Amateuraufnahmen von März 2022 zu finden, also nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Sie zeigen ein russisches Transportflugzeug der Airline Volga-Dnjepr auf dem Flughafen Bratislava.
Brennstäbe von der russischen Rosatom
Dass es trotz des EU-weiten Flugverbots für russische Maschinen dort landen durfte, hat mit der speziellen Fracht zu tun: Das Flugzeug war beladen mit frischen Brennelementen für die slowakischen Atomkraftwerke, produziert von einer Tochter der russischen Atomgesellschaft Rosatom.
Die Slowakei ist komplett von diesem Lieferanten abhängig. Er hält beinahe ein Monopol auf Brennelemente für den Reaktortyp, der in der Slowakei steht – und in vier weiteren EU-Ländern.
Auf absehbare Zeit sollen die speziellen sechseckigen Brennstäbe auch von westlichen Lieferanten kommen: Westinghouse aus den USA und Framatom aus Frankreich. Das Nachbarland Tschechien hat mit beiden Firmen bereits Lieferungen ab 2024 vereinbart, auch Slovenske Elektrarne hofft auf eine ähnliche Einigung.
„Wir werden sehen, weil diese Firmen kaum Erfahrung mit Brennstäben vom Typ WWER-440 haben,“ sagt Vladimir Slugen vorsichtig. Das sei eine politische Angelegenheit, die man als Techniker nur schwer beeinflussen könne.
„Ich kann nur hoffen, dass die Brennstäbe von Westinghouse oder vielleicht auch von Framatom dieselbe oder bessere Qualität haben werden wie die russischen. Rein aus technischer Perspektive waren wir mit den russischen Brennstoffen bis jetzt zufrieden“, erklärt er.
Erst einmal hat die Slowakei dank der Lieferungen im Frühjahr 2022 noch etwas Puffer.
Wandkalender mit Infos für den Notfall
Zurück in der Ratsstube von Bürgermeister Igor Gogora. Er hat aus dem Nachbarzimmer einen Wandkalender für 2023 und 2024 geholt – so einen haben alle Anwohnerinnen und Anwohner bekommen, die in einem 20-Kilometer-Radius um das Kraftwerk Mochovce wohnen.
Die einzelnen Monatsblätter zeigen Fotos aus dem Kraftwerk, gesetzlich vorgeschrieben ist jedoch der Anhang, der wichtige Informationen für die Bevölkerung bereithält – zum Beispiel, wie in einem Notfall Jodtabletten eingenommen werden sollen. Die werden gestellt von Slovenske Elektrarne, erklärt Gogora: Die Anwohner können ihre Ration alle paar Jahre kostenfrei im Rathaus abholen.
Die Anwohner des AKWs können ihre Ration Jodtabletten für den Notfall alle paar Jahre kostenfrei im Rathaus abholen, erzählt Bürgermeister Igor Gogora.© picture alliance / dpa / Miroslav Foldesi
„Aber den Leuten ist das nicht wichtig. Vielleicht 20, 25 Prozent kommen die Tabletten abholen. Daran sieht man, die Leute vertrauen dem Kraftwerk. 15, 20 Jahre haben sie die Pillen nicht gebraucht, also sind sie gelassen“, sagt er.
Auch verschiedene Sirenentöne – für Probealarm und Ernstfall – sind im Kalender grafisch dargestellt. Gogora demonstriert, wie die Bevölkerung bei einem Störfall gewarnt würde.
„Wir haben kein zweites Zuhause woanders“
In der Slowakei gab es seit 1977 keine größeren Atomunfälle mehr. Damals kam es zu einer Havarie in einem Versuchsreaktor an einem anderen Standort. In Mochovce gab es bislang keine Störfälle mit Auswirkungen für die Öffentlichkeit.
Auch wenn das Kraftwerk der Gemeinde Jobs und Steuereinnahmen bringt, für Bürgermeister Gogora steht Sicherheit an erster Stelle: „Wir haben kein zweites Zuhause woanders. Deshalb wollen die Leute kein Geld oder irgendwas – sie wollen hier in Sicherheit leben. Das ist uns sehr wichtig."
Dieses Vertrauen schöpft Gogora, weil er viele Beschäftigte des Kraftwerks persönlich kennt – darunter sein Vater, sein Bruder und sein langjähriger Vorgänger als Bürgermeister.
„Wenn man im Atomkraftwerk arbeitet, dann sieht man, ob es sicher ist oder nicht. Das ist gut für sie, und gut für uns. Denn deshalb trauen wir dem Kraftwerk: Viele Leute arbeiten dort und erzählen uns, wie es dort ist“, sagt er.
Neben Gogora auf dem Ledersofa liegt sein Smartphone. Plötzlich leuchtet das Foto einer Frau auf dem Display auf. Erst vor ein paar Tagen hat Igor Gogoras Frau ihre gemeinsame Tochter zur Welt gebracht, nun steht eine Nachuntersuchung im Krankenhaus an.
Die neuen Aufgaben als Bürgermeister sind also nicht das einzige, das sich in seinem Leben gerade geändert hat. Auf Strom aus dem dritten Block des Atomkraftwerks Mochovce warten die Menschen in der Slowakei indes weiter.