Alain Ehrenberg: "Die Mechanik der Leidenschaften – Gehirn, Verhalten, Gesellschaft"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
429 Seiten, 34 Euro
Den Potentialen der Abweichung auf der Spur
07:05 Minuten
Psychoanalyse war gestern, heute hat die Hirnforschung die Deutungshoheit über unser Ich übernommen. Der Soziologe Alain Ehrenberg erforscht, welche Folgen es hat, wenn der "neuronale" Mensch an die Stelle des "sozialen" Menschen tritt.
Depressionen und Burnout sind die typischen Symptome unserer Zeit. Das hat Alain Ehrenberg schon vor zwei Jahrzehnten in seinem Weltbestseller "Das erschöpfte Selbst" festgestellt. Der "Grundwert der Autonomie", also die unbegrenzte Fähigkeit, Agent der eigenen Veränderung zu sein, sei zugleich das Grundproblem westlicher Gesellschaften, denn er überfordere das Individuum – mit den benannten Folgen. Provokant schon damals: Ehrenberg machte nicht den Werteverfall für die Probleme verantwortlich, sondern unsere Werte und Ideale selbst. Im Folgeband "Das Unbehagen in der Gesellschaft" präsentierte Ehrenberg dann die wissenschaftlichen Diskurse über diese Entwicklungen - die sie, ironischerweise, damit zugleich beförderten, wie er betont. Hier schließt der soeben erschienene Band "Die Mechanik der Leidenschaften" an.
Denkt das Hirn unabhängig von der Außenwelt?
Darin geht Ehrenberg "den unbemerkte[n] Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Idealen und wissenschaftlichen Konzepten nach". Inzwischen werden solche sozialpsychologischen – Ehrenberg spricht von "ethnologischen" – Fragestellungen weithin von der "kognitiven Neurowissenschaft" absorbiert: die nämlich sei "eine der großen Erzählungen des zeitgenössischen Individualismus geworden", eine Art kulturelles Orientierungsraster, so wie es davor die Psychoanalyse war. Denn längst werde das Gehirn nicht mehr als bloß re-aktives System begriffen, das sich an eine Umwelt bestmöglich anpasse.
Ehrenberg argumentiert: "Das Gehirn, das sich seit den 1950er-Jahren abzeichnete, wurde nach und nach als selbstorganisiertes, dynamisches System gedacht, das sich von alleine in Bewegung setzt, unabhängig von den Stimuli, die von außen auf das Individuum einströmen." Das bedeutet, dass es eigenmächtig Vorstellungen entwickle, um die Umwelt zu gestalten, statt nur in einer vorgegebenen Welt möglichst kompetent zu funktionieren. Und damit kehre, im Gefolge der Neurowissenschaften, "ein längst verschwunden geglaubtes Phantom ins Rampenlicht zurück: das Subjekt". Die Folge: "Das 'Subjekt', das 'Selbst', das 'Bewusstsein' stehen [heute] ganz oben auf der Forschungsagenda."
Die Suche nach dem inneren Selbst taugt kaum noch als Witz
Doch anders als in der klassischen Subjektphilosophie kennen die Kognitionswissenschaften heute keine Essenz, sozusagen keinen inneren Kapitän mehr. Kaum noch als Witz taugt die modische Selbstfindung beziehungsweise Selbstverwirklichung, die Suche nach dem wahren, wesentlichen inneren Selbst. Gern zitiert Ehrenberg den Kollegen Varela: "Das Gehirn ist (…) ein höchst kooperatives System: die sehr dichten Verknüpfungen zwischen seinen Bestandteilen bedingen, dass letztlich alles, was geschieht, eine Funktion dessen ist, was alle Bestandteile machen." Obwohl Ehrenberg das Bild nicht gebraucht, scheint er sich das Hirn als eine Art neuronales Parlament vorzustellen.
In der Folge verschwänden auch einige der scheinbar fraglosen Werthierarchien. Abweichungen vom kognitiven Normalfall sollten womöglich auf ihr Potenzial hin eingeschätzt werden, suggeriert Ehrenbergs schönes Wortspiel: Statt "Handicaps" nur zu therapieren, sollten wir die Betroffenen auch als "handicapable" sehen. Das ist ein vielversprechender Ausblick als Abschluss der Buchreihe, die zwar den Wissenstand umfassend aufarbeitet, dessen sozialen Konsequenzen aber, um die es dem Autor doch eigentlich geht, als blinden Fleck hinterlässt.