Alan Bennett: Der souveräne Leser
Übersetzt von Ingo Herzke
Wagenbach Verlag, Berlin 2020
144 Seiten, 18 Euro
Lesen befreit den Kopf
06:29 Minuten
Alan Bennetts Roman "Die souveräne Leserin" über die Leselust der Queen war vor mehr als zehn Jahren ein Bestseller. In einem neuen, kleinen Band schreibt der Autor nun über die eigenen Lese-Obsessionen und beeindruckt mit viel Fantasie.
Bücher über die heilsame Wirkung des Lesens gibt es viele, und auch in der Literatur selbst ist das Motiv – verzweifelte Heldin oder Held heilt seine/ihre Verletzungen über die richtige Lektüre – häufig zu finden: Von Charles Dickens‘ David Copperfield, dessen vom brutalen Stiefvater gequältes Gemüt eine Bücherkiste auf dem Dachboden rettet bis zu Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen", die sich in einsamen Stunden im Keller mit Brehms Tierleben tröstet.
Die Literatur und ihre emotionale Sprengkraft
Kaum ein Buch erzählt jedoch so amüsant von der emotionalen Sprengkraft der Literatur wie Alan Bennetts kleiner Roman "Die souveräne Leserin". Darin entdeckt die englische Königin quasi über den Kücheneingang die Lust am Lesen und damit ihre (geistige) Freiheit.
Auf einmal kann sie sich in andere hineinversetzen und ist vor lauter Leselust auch bei offiziellen Anlässen nicht mehr ganz anwesend, sondern sitzt in der Kutsche und winkt ihrem Volk geistesabwesend zu, während sie heimlich auf dem Schoß ein Buch liegen hat und liest.
Das ist "very british" und wurde zu Recht ein Bestseller. Dass der Wagenbach Verlag jetzt gemeinsam mit dem bald 85-jährigen Erfolgsautor eine Sammlung seiner Texte über das Lesen (und Schreiben) herausgibt, ist für seine Leser ebenfalls ein Vergnügen.
Bücher als "Schlüssel zur Weiterentwicklung"
Dabei handelt es sich um autobiographische Betrachtungen, in denen Bennett etwa von den Lesegewohnheiten innerhalb seiner Familie erzählt und wie sehr seine Eltern (der Vater war Schlachtermeister in Leeds) in Büchern einen "Schlüssel zur Weiterentwicklung" sahen - beziehungsweise die Möglichkeit, aus ihrem Leben auszubrechen.
Wahrscheinlich tauche deshalb, schlussfolgert er, in beinahe jedem seiner Stücke oder Fernseh-Skripte eine Szene auf, in der ein ratloser Mensch vor dem Bücherregal steht und denkt: Das werde ich nie aufholen! Ein schöner, pointierter Text über eine Kern-Szene seines Schriftsteller- und Leser-Lebens.
Neben solchen Erinnerungstexten enthält der Band aber auch Lektüreeindrücke und Überlegungen zu englischen Dichtern, die hier weniger bekannt sind – wie der Lyriker Philip Larkin oder Denton Welch.
Was Kafka heute interessieren würde
Bennett fantasiert auch über einen seiner Lieblingsdichter: Franz Kafka. Indem er sich beispielsweise fragt, was Kafka heute wohl interessiert hätte - und dafür selbst herrlich kafkaeske Bilder findet:
"Er bemerkt alte Menschen im Rollator, die hinter ihrer fahrbaren Anklagebank stehen, während im Gehen über ihr Leben Gericht gehalten wird." Kafka macht sich über die Gefühle der Flasche Gedanken, die das Schiff tauft - oder er bemitleidet das Tor, nach einem Null-zu-Null-Spiel.
Solche Einfälle regen auf höchst amüsante Weise zu eigenen Gedankenspielen an. "Der souveräne Leser" ist ein persönliches Porträt des Autors über seine Lektüren, in dem sich immer wieder hübsche Beobachtungen finden. So liest Bennett einmal ein Buch aus der Bücherei, und als er einen dunklen Schlängelstrich am Rand sieht, schaut er sich den Abschnitt besonders aufmerksam an, um schließlich beim Umblättern festzustellen, dass es keine Markierung war, sondern nur ein langes dunkles Haar.
Eine Textsammlung, die einmal mehr zeigt, dass Lesen den Kopf befreit – und die auch Lust macht, mal wieder "Die souveräne Leserin" aufzuschlagen. Denn was braucht es mehr im Moment, als einen freien Kopf und Souveränität?!