der schmerz schmerzt
nicht mehr mehr nicht
Albert Ostermaier: "Teer"
© Suhrkamp
Gedichte über Liebe, Leid und das Leben mit Corona
05:56 Minuten
Albert Ostermaier
Teer. Gedichte 2016-2021Suhrkamp, Berlin 2021128 Seiten
18,00 Euro
Seine Inspirationquellen reichen von Hölderlin bis Instagram: Die älteren und neuen Verse von Dichter Albert Ostermaier in „Teer“ erzählen von jahrhundertealten Gefühlen und von unseren gegenwärtigen Pandemie-Realität.
Albert Ostermaier ist ein Fleißiger. Fast 40 Theaterstücke, vier Romane, viele Hörstücke, Libretti und ein gutes Dutzend Lyrikbände hat der 54-Jährige seit 1988 veröffentlicht. Das Werk des Münchners ist bereits jetzt so groß, dass andere da zweimal reinpassen.
Ostermaiers neuer Gedichtband „Teer“ versammelt Texte von 2016 bis 2021, was die Frage aufwirft, warum er zumindest einen Teil davon nicht schon vor zwei Jahren veröffentlicht hat. Denn da ist sein vorheriger Gedichtband erschienen.
„Teer“ bietet eine tour de force durch unser beschädigtes Leben. „Comment est ta peine“, auf Deutsch: Wie ist dein Schmerz, der Titel des Anfangsgedichts, zitiert einen Chanson von Benjamin Biolay und gibt zugleich Takt und Ton an:
Poesie der leeren Ränge
In fünf Kapiteln, deren Einteilung nicht zwingend einleuchtet, und einem Epilog schreibt Ostermaier sich Beziehungsglück, Erinnerungsversuche und das Leben mit Corona von der Seele. Die Bilder verwaister Stadien zum Beispiel sind natürlich ein Graus für den Fußballfan und Torwart der deutschen Autorennationalmannschaft:
die leeren ränge keine
fahne klirrt im wind
ein ball allein auf dem
spielfeld die stille ihm
fehlt ein fuss
Bert Brecht im Opel Manta
Fußballspiele ohne Zuschauer, dafür mit Hölderlins „Hälfte des Lebens“. Einer der vielen literarischen Verweise in diesem Band neben Shakespeare, Goethe, Rilke, Kafka oder William Carlos Williams. „Teer“ verklebt Dutzende Zitate, ohne sie immer als solche auszustellen.
Neben dem interpunktionslosen Schweben der Verse, die das Lesen verlangsamen, und den grammatischen Derivationen, die die Semantik auffächern, ist das Kryptozitat das auffälligste Stilmittel. Manchmal zitiert Ostermaier die Vorbilder nicht bloß herbei, sondern lässt sie persönlich durch Zeilen und Zeiten reisen, wie Bert Brecht, der im Opel Manta das Ruhrgebiet von heute erkundet. Seine Spritztour mündet in die ernüchternde Sentenz: „woanders ist auch scheisse“.
Zwischen Aphorismus und Plattitüde
Die Qualität der Verse in „Teer“ schwankt beträchtlich. Hier aphoristische Klugheit – „es ist zu spät die zukunft zu fordern / sie lauert hinter dem doppelpunkt“, dort kalauernde Plattitüde – „der schnee fällt als fiele / er mir ein“; großartige Stimmungsbilder wie die „ode an die trinkbude“ oder „am ende sonne“ stehen neben verunglückter politischer Lyrik („vor ceuta“) und dürftiger Instagram-Poesie:
es war ein schönes
gedicht manches hat sich gereimt
wenn ich mir auch auf das meiste
keinen mehr machen kann
Starke selbstkritische Gedichte
Albert Ostermaiers Verse überzeugen da, wo sie besonders nah am Autor zu sein scheinen. In „lichtzeichen“, dem längsten Gedicht des Bandes, verhandelt er selbstkritisch Fragen des Stückeschreibers Ostermaier:
das theater
kennt sich aus im nichtauskennen
im nichtauskommen mit der sprache
Das starke Schlusskapitel besteht nur aus einem einzigen Gedicht. „fortschreiben“ ist mehr als ein berührender Nekrolog auf den langjährigen Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger. Es ist die Hommage an einen bedeutenden Mentor:
als wäre was war
chimäre wir zwei
zeilen die sich im
unendlichen treffen
wo du wartest mit
einem blauen stift der
bis in meine hand
reicht