Alberto Barrera Tyszka, Die letzten Tage des Comandante
Nagel & Kimche, München 2016, 256 Seiten, 22 Euro
Leben im Venezuela des Hugo Chávez
Der Schriftsteller Alberto Barrera ist ausgesprochen populär in Venezuela und dort auch buchpreisprämiert. In seinem aktuellen Roman beleuchtet er das Leben im Land des umstrittenen Staatschefs Hugo Chávez: Geschichten aus einem zerrissenen Land.
Hugo Chávez, Präsident von Venezuela, starb am 5. März 2013 im Alter von 58 Jahren an Krebs. Bis heute gibt es die merkwürdigsten Gerüchte um seinen Tod: Er sei schon Anfang des Jahres hirntot gewesen und künstlich am Leben gehalten worden, um seine Nachfolge zu sichern; er sei am Morgen des 5. März in Cuba gestorben und danach schnell nach Caracas gebracht worden; und überhaupt seien an seinem Tod die USA schuld, die ihn mit einem Krebsvirus vergiftet hätten.
Der venezolanische Dichter und Romancier Alberto Barrera hat über die Zeit kurz vor Chávez’ Tod einen hochintelligenten Roman geschrieben, der die hitzige und angespannte Stimmung in Venezuela ab Dezember 2012 widerspiegelt. Letztes Jahr wurde er dafür mit dem renommierten Premio Tusquets ausgezeichnet.
Keine plumpe Parteilichkeit sondern ein genauer Blick
Die inneren Kreise der Macht sorgten damals mit allen Mitteln dafür, dass nichts über den tatsächlichen Zustand des Kranken nach außen drang, der in einer kubanischen Klinik behandelt wurde. Bei seinen letzten Auftritten hatte Chávez sich optimistisch gezeigt, hatte die Wahlen im Oktober 2012 noch gewonnen, aber bereits einen Stellvertreter eingesetzt. Den Mythos um seine Person verstärkte er, indem er seine Krankheit messianisch überhöhte, so dass er posthum zu einem wundertätigen Heiligen des Sozialismus erhoben wurde. Die einen beten ihn an, die anderen verfluchen ihn und sein Erbe: Der Chavismus spaltet das Land noch heute, und die Grenzen verlaufen ziemlich genau entlang der Einkommensverteilung.
Barrera allerdings bekennt sich zu keinem der beiden Lager. Eine seiner Hauptfiguren, ein pensionierter Onkologe, hat sich in seiner Familie mit dem Fanatismus beider Lager auseinanderzusetzen und ist von beiden gleichermaßen abgestoßen. Überhaupt vermeidet der Roman plumpe Parteilichkeit durch den genauen Blick auf seine höchst unterschiedlichen Figuren.
Spielball der großen und kleinen Strippenzieher
Ein Journalist kämpft ums materielle Überleben und will mit einem Buch über Chávez den großen Reibach machen, wodurch er in zum Spielball kleiner und großer Strippenzieher wird. Ein kleines Mädchen verliert seine Mutter durch die allgegenwärtige Gewalt auf den Straßen (Caracas hat eine der höchsten Mordraten der Welt); eine Provinzjounalistin aus den USA will ihrer eignen Vergangenheit in Venezuela auf die Spur kommen; und eine Dame der Oberschicht vergrault ihre Mieter mit Hilfe von Slumbewohnern.
Es ist ein widersprüchliches Gesellschaftspanorama, das der Autor hier aufmacht: Barrera ist ein erfahrener Fernsehautor, der seine Figuren in bildhaften Szenen zu präsentieren weiß. Aber er hat auch seinen Max Weber gelesen und räsoniert über die Entstehung von Charisma, während er erzählerisch die öffentliche Kunstfigur Chávez dekonstruiert.
"Die letzten Tage des Comandante" ist ein vielschichtiger und überaus lesenwerter Zeitroman über ein kaputtes, korrumpiertes und zerrissenes Land und seine ganz normalen Bewohner.