Albrecht Koschorke: Adolf Hitlers "Mein Kampf"

Tricks und Effekte der Propaganda

Buchdeckel von "Mein Kampf" des Prager Verlages "Otakar II".
Mit der Wirkungsweise von Hitlers "Mein Kampf" hat sich der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke auseinandergesetzt. © picture alliance / dpa / CTK Pesko
Von Wolfgang Schneider |
Ist es möglich, die Poetik von Hitlers "Mein Kampf" zu untersuchen? In seinem klugen und anregenden Essay erläutert der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke die Erzähltechnik des Diktators - und macht die Sogkraft seiner Propagandaschrift verständlicher.
Erstaunlich ist die zentrale Rolle, die das alte Medium des Buches für totalitäre Regime spielt, die sonst eher auf moderne Massenmedien zur Manipulation des Volkes vertrauen. Das Werk des Diktators wird zur symbolischen Mitte des Systems; es präsentiert sich als Reinigungsunternehmen, als Abrechnung mit einer schmutzigen, krisenhaften Vergangenheit. Es ist das "sakrale Zentrum" der Propaganda.
Auch deshalb wurde "Mein Kampf" hierzulande lange als "gefährliches" Buch in den Giftschrank gesperrt und der Neudruck verboten, zugleich aber wurde es verharmlost als schlecht und schwülstig geschriebenes Werk, das angeblich kaum ein Deutscher gelesen habe. Die gerade erschienene wissenschaftliche Neuausgabe errichtet mit ihren umfangreichen Kommentaren eine Art "Cordon sanitaire" rund um den Text, um dessen ideologische Ansteckungsgefahr zu bannen, schreibt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke mit leicht süffisantem Unterton. Zweifellos sind die Entlarvungen der Fehler und Fälschungen Hitlers nützlich. Aber die Wirkungsweise von "Mein Kampf" begreift man damit nicht wirklich.
Koschorke geht es deshalb nicht um die – bereits oft vorgenommene – inhaltliche Rekonstruktion von Hitlers Ideologie. Sondern um "gestische Begleitsignale" und "Untertöne" des Textes, um die "Poetik des Nationalsozialismus". Welche ganz unterschiedlichen Leseerwartungen bedient Hitler? Welche "erzählerische Orchestrierung" – Muster des Bildungsromans und der Konversionsgeschichte – nimmt er vor?
Anstatt die "Lügen" in den autobiografischen Partien ein weiteres Mal anzuprangern, untersucht Koschorke, welche Effekte Hitler durch die "fiktional nachgearbeitete" Darstellung seines eigenen Werdegangs erzielt.
"Mein Kampf" ermöglicht doppelte Rezeption
Wie jede Verschwörungstheorie hat sich Hitlers Rassenwahn gegen Einwände immunisiert und abgedichtet: Wer Gegenargumente vorbringt, ist "der jüdischen Weltpresse" selbst schon auf den Leim gegangen.
Trotzdem mögen gebildete Leser die hassgeladenen Tiraden als zumutungsvoll empfunden haben. Für sie hatte Hitler mehr zu bieten. "Mein Kampf", so Koschorke, ermöglichte eine doppelte Rezeption. Die völkische Schauseite ist in den ideologischen Kapiteln zu besichtigen; daneben werden den Anspruchsvolleren in verblüffender Offenheit die "Arkana der Machttechnik" vor Augen geführt, die Rezepturen der Propaganda, die Tricks der Massen-Manipulation.
Hier wechselt Hitler vom populistischen Gemeinschaftspathos zur autoritären Massenverachtung – und bedient damit die Bedürfnisse einer Elite, die am Insider-Herrschaftswissen teilhaben möchte. Nicht die Treue gegenüber einer Ideologie, sondern "Einigkeit in der Entschiedenheit" und die "Lust am Machtwort" hätten die NS-Elite verbunden.
Koschorke liegt es fern, "Mein Kampf" als literarisches Werk gewissermaßen zu rehabilitieren. Aber sein kluger und ungemein anregender Essay zeigt, dass die "Sogkraft der Drohung", die von diesem Buch ausging, sich nicht allein seiner aus vielen Versatzstücken zusammenkolportierten Ideologie verdankt, die uns heute so wahnhaft, plump oder gar lächerlich erscheint.

Albrecht Koschorke: Adolf Hitlers "Mein Kampf" – Zur Poetik des Nationalsozialismus
Reihe: Fröhliche Wissenschaft
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016
93 Seiten, Klappenbroschur, 10 Euro

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