Aleida Assmann: Formen des Vergessens
Wallstein Verlag, Göttingen 2016
224 Seiten, 14,90 Euro
Wohin das Wissen verschwindet
Erinnern ist gut, Vergessen ist schlecht. Stimmt nicht, meint die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann und geht gegen das negative Image des kognitiven Ad-acta-Legens vor. Gut lesbar führt sie im Sachbuch "Formen des Vergessens" durch die Welt des Gedächtnisses, wo ständig aufgeräumt wird.
Dass wir selbst das vergessen, was uns eigentlich merken wollten, hat dem Vergessen einen schlechten Ruf eingebracht – anders verhält es sich mit dem Erinnern, das zu den positiven Werten gehört. Gegen diese Unterteilung in "schlecht" und "gut" wendet sich die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem neuen Buch, in dem sie eine Lanze für das Vergessen bricht, das sie nicht länger als Antipode zum Erinnern verstehen will.
Denn der Normalfall ist, dass wir vergessen. Ein barockes Sinnbild veranschaulicht, was gemeint ist. Aus einem in einer Wolke liegenden aufgeschlagenen Buch regnet Wissen in Form von kleinen Tropfen auf die Erde, auf der eine Flasche steht. Doch da der Flaschenhals zu eng ist, gelangen nur wenige Tropfen ins Flascheninnere. Die anderen fallen irgendwo hin - anders gesagt, sie werden als Wissen vergessen. Eng ist nicht nur der Flaschenhals, sondern eng ist es auch in unserem Gedächtnis, in dem ständig um- und ausgeräumt werden muss.
Sieben Formen des Vergessens
Aleida Assmann schlägt vor, sich das Gedächtnis als einen Raum vorzustellen, der aus einem Schaufenster, einem Laden und einem Magazin besteht. Im Schaufenster wird nur wenig ausgestellt, mehr ist im Laden zu sehen und gesucht werden muss im Archiv. Diese räumliche Metapher veranschaulicht, wie der Begriff des Vergessens zu differenzieren ist. Für die Unterscheidung des kulturellen und gesellschaftlichen Vergessens schlägt die Kulturwissenschaftlerin sieben Vergessens-Formen vor. Neben dem "automatischen Vergessen", dem Verlust an Wissen und Erfahrungen, das zu beklagen ist, wenn ein Mensch stirbt, gibt es das "Verwahrensvergessen". Die Archive sind voll von Dingen, die nicht mehr aktiv erinnert, aber auch noch nicht vollständig vergessen sind.
Notwendig ist das "selektive Vergessen" – das Gedächtnis muss aus Gründen ständigen Überangebotes filtern. Historisch interessant ist das "strafende Vergessen", wenn Namen gestrichen oder Denkmäler geschleift werden. Diese repressive Form der Streichung aus dem kulturellen Gedächtnis unterscheidet sich vom "konstruktiven Vergessen", wenn aus Gründen der Anpassung an ein neues politisches System tabula rasa gemacht wird. Und es gibt schließlich das "therapeutische Vergessen", das notwendig ist, um eine vergangene Last loswerden zu können.
Beispiel "Von-Emmich-Straße" in Konstanz
Aleida Assmanns Buch ist informativ, kenntnisreich geschrieben und gut zu lesen. Überzeugend weiß sie ihre theoretischen Exkurse durch Beispiele aus der Geschichte und der unmittelbaren Gegenwart zu belegen. So macht sie am Beispiel der "Von-Emmich-Straße" in Konstanz deutlich, wie schwierig der Umgang mit Personen ist, an die durch Straßennamen erinnert wird, wenn inzwischen bekannt geworden ist, dass es sich um Unpersonen handelt. Otto von Emmich hat als General im Ersten Weltkrieg die Vernichtung der Bibliothek von Leuven mitzuverantworten. Die Bibliothek als ein Archiv des Erinnerns. Die Anwohner hatten sich gegen eine Umbenennung der Straße ausgesprochen. Ein Argument war: von Emmich wäre bereits vergessen und es wäre überflüssig, das Verhältnis zu ihm zu revidieren. Eine Lektüre von Aleida Assmanns Buch wäre nicht nur in diesem Falle lohnenswert, um erneut darüber nachzudenken.