Aleksandar Hemon: "Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen"
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
Claassen Verlag, Berlin 2021
416 Seiten, 24 Euro
Literarisches Spiegelkabinett
05:31 Minuten
Der bosnisch-amerikanische Autor Aleksandar Hemon präsentiert sich in einem Wendebuch als Gespaltener. Oft sehr nahe liegende Erklärungen über seine aus Sarajevo geflohenen Eltern stehen intensiven eigenen Erinnerungen gegenüber.
Dieses Buch enthält zwei Bücher. "Meine Eltern" heißt das erste, und nach 200 Seiten finden sich Fotografien aus dem Leben der Eltern des Autors Aleksandar Hemon. Sie zeigen die Eltern, Verwandte, die Werkstatt des Vaters und einiges mehr, von dem schon die Rede war.
Um die Aufnahmen zu betrachten, muss man das Buch um 90 Grad drehen. Allerdings landet man nach dem letzten Foto, in der Mitte des Buches, unversehens auf einer Seite mit Text, die noch einmal um 90 Grad gedreht werden muss, um gelesen werden zu können. Sie erweist sich als die letzte Seite von "Alles nicht dein Eigen", dem zweiten Buch des Doppelpacks, das dort beginnt, wo die Rückseite von "Meine Eltern" zu sein schien: hinten. Willkommen im literarischen Spiegelkabinett des Aleksandar Hemon.
Eltern im sozialistischen Jugoslawien
Nicht unbekannt sind den Lesern die Eltern des 1964 in Sarajevo geborenen Autors, der sich 1992 mit einem Stipendium in den USA aufhielt und dortblieb, als die Belagerung seiner Heimatstadt begann. Hemon, der seit 1995 auf Englisch schreibt und mit dem Roman "Lazarus" international berühmt wurde, hat von ihnen bereits mehrmals in durchaus grellen Geschichten erzählt.
"Meine Eltern" ist eine zärtliche, dokumentarische Annäherung. Hemon schildert ihr Leben als Arbeit am sozialistischen Projekt Jugoslawien, erklärt die stets von ihnen beklagte "katastrofa", die Wichtigkeit von Filmen, des gemeinsamen Essens, der Bienen, des Singens, der Bücher und der elterlichen Arbeitsteilung. Der Vater war als Ingenieur oft im Ausland und ließ die Mutter auch allein, als Hemons Schwester zur Welt kam.
Zärtlich-rührende Beschreibungen
"Meine Eltern" wirbt als Einführung in die südslawische Mentalität um Sympathie. Denn die mittlerweile Hochbetagten, die wie der Sohn aus dem belagerten Sarajevo flohen, leben in Kanada und sind dort Fremde geblieben.
Hemons Erklärungen für manch ungewöhnliche Verhaltensweise sind freilich oft sehr nahe liegend. Außerdem erstaunt es, wie sehr er sich auch bei urkomischen Episoden zurückhält, wie etwa bei der zu vielen Auftritten und einer CD führenden Begeisterung für ukrainische Volksweisen. Die Zärtlichkeit des Sohnes weckt Rührung, aber keine Freude.
Wilde eigene Erinnerungen
Der andere, wilde, überraschende Hemon ist zu erleben, wenn man das Buch umdreht. "Alles nicht dein Eigen" ist ebenso lang wie "Meine Eltern", besteht jedoch aus ein- bis dreiseitigen Prosastücken.
Hemon gräbt nach lange vergessenen Erinnerungen. Sie stammen aus den ersten 15 Lebensjahren und sind peinlich und drastisch, beglückend oder beängstigend: mit vier beinahe in der Kotrinne eines Kuhstalls ertrinken, sich nachts zwischen die Eltern im Bett drängeln, in giftig riechenden Containern Älteren beim Sex und Dealen zusehen, sich prügeln, aus Langeweile vom Balkon fallen, die ersten Verse schreiben an ein Mädchen ohne Namen, Gesicht und Identität, "was die Sache natürlich arg verkomplizierte".
Vom doppelten Hemon
Immer sind die Erinnerungen intensiv – und von der Stimme des Erwachsenen begleitet, der beklagt, er habe keine Erinnerungen mehr, nur noch Geschichten, in denen er eine Romanfigur sei. Auch die eben erst wiedergefundenen Erinnerungen in "Alles nicht dein Eigen" werden flugs zu Geschichten, von denen eine so endet: "Stattdessen sitzen wir nun hier, Hemon, du und ich."
Und der Leser sitzt vor zwei Büchern, die vor allem der Einband verbindet. Vom doppelten Hemon – die Spaltung führt der Autor auf die Emigration in die USA und das Schreiben auf Englisch zurück – würde man gern mehr lesen, von dem einfachen, dem Sohn seiner Eltern, eher nicht.