Aleksandar Tišma: "Erinnere dich ewig"
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2021
312 Seiten, 24 Euro
Selbstanklage ohne Ende
06:41 Minuten
In den 1990er-Jahren galten die Romane Aleksandar Tišmas als Kommentare zu den grausamen Kriegen, in denen Jugoslawien unterging. Dann wurde er hierzulande vergessen. Mit Hilfe seiner Autobiografie können wir den Schriftsteller nun wieder entdecken.
Wie eine Flaschenpost aus vergangenen Zeiten wirkt diese Autobiografie. In den 1990er-Jahren war Aleksandar Tišmas Name hierzulande in aller Munde.
In den Romanen "Der Gebrauch des Menschen" oder "Die Schule der Gottlosigkeit" erzählt er von der Gewalt, die Menschen einander im Zweiten Weltkrieg und im jugoslawischen Sozialismus antun, und von der Schuld.
In Europa las man die Werke des Nordserben als Kommentar zu den grausamen Kriegen, in denen der Vielvölkerstaat unterging. Tišma wurde berühmt – und nach seinem Tod 2003 vergessen.
Damals hätte die Autobiografie "Erinnere dich ewig", die bereits 2000 in Novi Sad erschien, ein interessiertes Publikum gefunden. Aber heute?
Muss man eben noch einmal anfangen, den großen Schriftsteller bekannt zu machen. Dafür genügt es, den Geist aus der Flaschenpost zu lassen: Tišmas unerbittliche Selbsterforschung, sein nagendes Gefühl, ein "Nichts" zu sein, "ein leerer Raum, ein Raum ohne Verbindung zur Wirklichkeit, zur Geschichte, ja zum Leben, ein Gespenst, eine Maske, ein falscher Mensch, ein Spuk mitten im Leben".
Der Heranwachsende weiß, wie ihm zu helfen ist: durch Sex und durchs Schreiben. Allerdings fällt es dem jungen Tišma zwar leicht, jeden Tag eine andere zu verführen oder zu kaufen, sofern nicht gerade eine Geschlechtskrankheit zur Untätigkeit zwingt. Doch das Schreiben gibt sich ihm nicht so einfach hin.
Die Großmutter entkommt dem Massaker
Seine Leere führt Tišma auf eine diffuse nationale Zugehörigkeit zurück, so dass die Autobiografie mühelos individuelle und kollektive Geschichte miteinander verschmilzt: Seine schöne und an Migräne leidende Mutter ist eine Jüdin aus der ungarischen Minderheit in der nordserbischen Vojvodina, der gutaussehende und das Leben genießende Vater ein serbischer Händler.
Die familiären Spannungen sind groß, rücken allerdings in den Hintergrund, als das faschistische Ungarn Serbien besetzt. 1942 schlachten die Okkupanten tausende Juden am Ufer der Donau ab. (*)
Tišmas geliebte Großmutter Majka entkommt dem Massaker, von dem ihr Enkel im Roman "Das Buch Blam" erzählen wird, mit knapper Not am dritten Tag. Tišma zieht mit Majka nach Budapest, wo er ein wenig Ökonomie und viel Nachtleben studiert, bevor ihn ein Arbeitslager in Transsylvanien vor Auschwitz bewahrt.
Die Ehe scheitert, die Mutter vergreist
Die gefährlichen Jahre des Befreiungskampfes und danach überlebt Tišma als Briefzensor und Redakteur, erst in kleineren Organen in der Vojvodina, dann in der Belgrader Parteizeitung. Er leidet an der Diskrepanz von Propaganda und Wirklichkeit, nutzt jedoch die Vorteile seiner Position, tauscht Wohnungen, knüpft Verbindungen, wird gar Parteimitglied.
Tišma heuchelt, er ist feige – und sein schärfster Kritiker. Das literarische Schreiben will ihm noch immer nicht gelingen, und einen Pass für Frankreich, dem Inbegriff des literarischen Lebens, erhält er jahrelang nicht. Erst als sich Tišma Anfang der 1960er-Jahre mit dem Leben in Novi Sad abfindet, drängen Prosa und Gedichte aus ihm hervor.
Über diesen "Strom" sagt Tišma in der Autobiografie ebenso wenig wie über die sexuellen Abenteuer. "Erinnere dich ewig" bezieht seine Spannung aus der unbestechlichen Beobachtung seiner selbst und der Menschen um ihn herum.
Als Tišma ab den 1980er-Jahren berühmt wird, lässt die Spannung nach, viele Informationen über Übersetzungen, Kontakte, Reisen, Auftritte auf Kongressen und Tagungen rücken in den Vordergrund. Dann scheitert die Ehe des Frauenhelden, Jugoslawien zerfällt und die Mutter vergreist.
Sie stirbt allein, eine Stunde vor seiner Rückkehr aus dem Ausland, weil er aus Gewohnheit und Sparsamkeit kein Taxi nehmen mag. Die Selbstanklage kommt an kein Ende. Nur die Autobiografie endet mit ihr.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben die Zahl korrigiert.