Alessandro Baricco: "Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur"
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018
224 Seiten, 20,00 Euro
Über das intelligente Schwimmen im Großen Strom
In "Die Barbaren" wagt der italienische Philosoph Alessandro Baricco ein Experiment und wirft ungewöhnliche Fragen auf. Was wäre z.B., wenn "die Anderen" einfach "die Neuen" sind? Das Werk ist gut durchdacht und subversiv, lobt unser Kritiker.
Barbar war für die alten Griechen einer, der nicht Griechisch sprach. Seit der Antike gilt er als der Unzivilisierte, als Antipode desjenigen, der Zivilisation definiert. Er ist eine Bedrohung für gewachsene Ordnungen und etablierte Kulturen, gleich, ob er auf Pferderücken aus der asiatischen Steppe nach Europa einfällt, als Flüchtling über das Meer kommt oder das Präsidentenamt in den USA ausübt.
Der italienische Romanautor, Musikwissenschaftler und Philosoph Alessandro Baricco unternimmt in seinem Buch "Die Barbaren" ein interessantes Experiment: Wie, fragt der Autor, wäre es denn, wenn Barbaren nicht "die Anderen", sondern einfach "die Neuen" sind? Eine weitere Stufe der Kultur, das Zukünftige, vielleicht das Notwendige, eine neue Spezies. Nicht ganz ohne Boshaftigkeit stellt er die Möglichkeit vor, dass diese "Kiemen hinter den Ohren hat und von nun an unter Wasser leben will".
Phänomene der Geschichte
Baricco ist ein Bewunderer des Philosophen Walter Benjamin, der im scheinbar Unbedeutenden der Gegenwart Anzeichen für Mutationen zu erfassen und sie als Ausdruck von Zukunft zu lesen suchte. Wie Benjamin seinerzeit über Micky-Maus, schreibt Baricco über Fußball, Hamburger, Google und billige Weine.
Was die Lektüre seines Buch lohnenswert macht: Er stellt Phänomene der Geschichte aus ihrer Zeit heraus vor und nimmt damit auch gegenwärtigen Entwicklungen die Dramatik. Die Neunte Sinfonie von Beethoven galt beispielsweise vielen Kritikern und Musikliebhabern zur Zeit ihrer Uraufführung als barbarisch: oberflächlich, affektiert, frivol. Auch der bürgerliche Roman wurde in seinen Anfängen als schändliche Bedrohung der Ordnung wahrgenommen.
Die Barbaren sind unter uns
Dass Barbaren unter uns sind, dass sie unwiderruflich Veränderungen bringen und wir uns dazu abwehrend, neugierig oder bejahend verhalten können, ist Grundlage von Barricos engagierten, doch unsentimentalen Betrachtungen. Sie erschienen zuerst wöchentlich in einer italienischen Tageszeitung und liegen nun in dreißig Folgen als Buch vor. Scheinbar mit leichter Hand geschrieben, für ein Publikum, das nicht zwangsläufig als literarisches angesehen werden muss.
Barrico spricht den Leser in der Zweiten Person an, fokussiert sich pro Folge auf einen bestimmten Aspekt, kündigt jeweils weitere Folgen an, hält die Spannung. Er schreibt unterhaltsam und unkompliziert, doch der ist Inhalt komplex. Das macht dieses Buch subversiv. Auch wenn der Autor suggeriert, seine Einsichten entstünden leichthin im Moment des Schreibens, so sind die Zusammenhänge, die er eröffnet, tief durchdacht. Frappierend erläutert er anhand der Funktionsweise von Google die Veränderung unseres Denkens – das man als barbarisch oder als kollektive Mutation verstehen kann.
Verlust der Seele
Barrico argumentiert philosophisch, soziologisch, wirtschaftlich und kulturhistorisch. Seine Beispiele für vielfältige Ausformungen des Barbarentums sind plastisch und stets originell. Einzelne "Plünderungen" nennt er sie, gedanklich miteinander verbunden machen sie die barbarische "Invasion" sichtbar. Deren Folgen - das Ersetzen der Idee der Schönheit durch die der Spektakularität. Verlust der Seele durch Vermarktung. Beseitigung von Privilegien einer Kaste durch eine technologische Revolution. Schnelligkeit statt Nachdenken, Kommunikation statt Ausdruck, Vergnügen statt Mühe, Multitasking statt Spezialisierung.
Gegen diese Entwicklung Mauern zu bauen, hält Baricco für aussichtslos. Er rät zu "intelligentem Schwimmen" im großen Strom, um dabei das zu retten, was uns lieb und teuer ist.