Eine junge Frau erzählt vom Leben "auf Platte"
Essen, Getränke, Pflaster und Taschentücher: Aus einem Bus versorgt die Berliner Kontakt- und Beratungsstelle KuB junge Menschen in Not. Die 20-jährige Alex hat selbst auf der Straße gelebt - und begleitet unsere Reporterin auf den Alexanderplatz.
Ein Donnerstag im September, 16 Uhr. Die Sozialarbeiter Basti, Anjuschka und Julia sind mit dem KuB-Bus unterwegs zum Alexanderplatz. Mit dabei: Alex, Hündin Bella und ich. Alex, die eigentlich anders heißt, ist 20 Jahre alt, kennt die KuB gut und den Alexanderplatz noch besser. Vor einigen Jahren lebte sie auch auf der Straße.
Wir sind da, die Crew wird erwartet. Jugendliche und junge Erwachsene, vielleicht 25, Musik, fast ausgelassene Stimmung. Ich werde neugierig-misstrauisch beäugt, aber akzeptiert – auch, weil mein Mikrofon keine Kamera ist. Die Besucher zu beschreiben, erschiene mir wie Verrat. Ein junger Mann wartet auf ein belegtes Brot. Seit einigen Monaten ist er weg von der Straße, in einer Unterkunft.
"Bei Wind und Wetter draußen und so, das war echt anstrengend, das war nicht gerade ohne."
Notversorgung und Süßes aus dem Kofferraum
Anjuschka steht am geöffneten Kofferraum des Busses, der viele Fächer und Schubladen beherbergt. Hier liegt alles für die Grund- und Notversorgung bereit.
"Ich glaube, die KuB ist eines der niedrigschwelligsten Angebote, die es in Berlin gibt. Die können hier essen, trinken, alles in Anspruch nehmen, aber mehr müssen sie nicht tun."
Heute gibt es Joghurt, Obst, belegte Brote und Getränke. Basti und Julia sind mit Besuchern im Gespräch. Anjuschka verteilt, was gebraucht wird:
"Dann haben wir außer Essen natürlich unsere Grundversorgung. Das heißt wir haben: Pflaster, Kondome, Zahnbürsten, Taschentücher, Reinigungstücher, Salben, Zahnpasta, Handcreme. Und, eigentlich, die wichtigste Schublade ist die Schublade mit den Süßigkeiten. – Weil, wir dürfen ja nicht vergessen: Wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen, die sowieso wenig haben - und sowas schon gar nicht."
Eine junge Frau trägt mit beiden Händen Süßigkeiten in Richtung einer Gruppe junger Leute, die etwas abseits mit ihren Hunden sitzen.
"Ich schlafe heute auf Platte. Platte ist, mit anderen Leuten oder alleine auf der Straße pennen. Irgendwo. Platte ist geheim, das darf keiner wissen. – Das ist meine Plattengruppe, also meine Familie."
Das ganze Leben in vier Tüten
Eine Zeit "Auf Platte" und eine Straßenfamilie gab es auch für Alex, die heute nach einem Besuch der KuB in Kreuzberg mit zum Alexanderplatz gefahren ist:
"Mit 16 bin ich abgehauen. Kurz nach meinem Geburtstag, hatte ich einen Missbrauch. Und ja, das ist der Grund, also einer der Gründe, warum ich so abgestürzt bin."
Alex geht nicht mehr nach Hause, weil sie weiß, dass ihre Eltern darauf bestehen würden, zur Polizei zu gehen.
"Du wurdest geschlagen. Du wurdest gewürgt. Das sind so Sachen, das ist grad passiert. Und dann soll man noch zur Polizei und soll das auch noch sagen? Das ist ... aber am Arsch. Ich hatte damit zu kämpfen, mich nicht grad umzubringen."
So viel ist seither passiert. Der Sommer, in dem sie "abstürzt", wie Alex es nennt, ist der, in dem sie die Schule beendet. Schon vorher hat sie Stress mit den Eltern. Sie feiert viel und kifft gern, das Gras kauft sie bei ihrem "Ticker". Bei ihm kommt sie unter nach der Vergewaltigung, kann dort aber anfangs noch nicht richtig wohnen und gerät so auf die Straße.
"Ich hatte eine Straßenmutti. Das war, wo ich obdachlos war. Die hat mich gefunden. Das war Nähe Hauptbahnhof, da lag ich unterm Baum mit vier Tüten. Das war mein Leben so, mein ganzes Leben, was da drin war."
Eine Frau, selbst obdachlos, kümmert sich um Alex und macht sie mit zehn anderen bekannt. Gemeinsam übernachten sie draußen: Eine Straßenfamilie, deren Ort Alex noch heute, Jahre später, geheim hält. Hunger ist eine prägende Erfahrung aus dieser Zeit:
"Da haben wir uns zu zwölft ein Brot geteilt. Das heißt, jeder durfte einmal abbeißen und tschüss, dann war es weg."
Alleine ist man auf der Straße verloren
Was ich schnell verstehe: Auf der Straße ist man verloren, wenn man allein ist. Und doch: Kälte, Hunger, sogar Gewalt hält der Körper irgendwie aus. "Muss ja", sagt Alex. Aber Freundschaft, ein offenes Ohr sind dann so nötig wie Brot. Die Straßenfamilie kann das manchmal geben, aber belegt mit großen Erwartungen und hierarchisch strukturiert, liefert sie auch oft neue Enttäuschungen, bleibt Zweckgemeinschaft. Mit ihrer "Straßenmutti" hat Alex aber eine ganz besondere Beziehung:
"Sie war die erste Person, die richtig zugehört hat, die mich auch in den Arm genommen hat, wo sie wusste. Das waren Themen, die nicht so schön waren, ja. Ich weiß, dass sie nicht meine richtige Mama ist, aber ich weiß, dass sie dieselbe Hilfe braucht wie ich. Wir waren auf demselben Stand."
Auch für Alex ist die Straßenzeit eine Drogenzeit: "Ziehen oder Teile-Schmeißen", sagt sie und meint besonders den Konsum chemischer Drogen durch die Nase oder zum Schlucken: Ecstasy, Crystal, Speed. Aber man wisse nie, was tatsächlich drin sei. In manchen Zeiten zähle ohnehin nur die Wirkung:
"Das ist halt, warum man Teile nimmt. Du vergisst einfach den ganzen Scheiß, der passiert ist. – Und wenn du wieder runterkommst, kommt genau die ganze Sache, die du versucht hast zu verdrängen, doppelt und dreifach wieder. Stürzt alles auf deinen Kopf."
Dem Tod von der Schippe gesprungen
Einige Monate ist Alex auf der Straße, wohnt später ganz bei ihrem Ticker oder einem anderen Kumpel. Morgens gibt es oft nur Drogen zum Frühstück.
Innerhalb der beiden letzten Jahre war sie zweimal im Krankenhaus: Leberversagen. Und sprang dem Tod von der Schippe. Inzwischen hat sie Hilfe gesucht – über den KuB-Bus, zu dem sie früher kam, um zu essen. – Wobei, ein bisschen kam die KuB auch zu ihr…
"Wir sind jetzt in deren 'Wohnzimmer'. Wir besuchen die quasi in ihrer Lebenswelt, in ihrer Situation, bieten ihnen was und freuen uns, wenn sie kommen und uns signalisieren: 'Ihr könnt ja noch mehr, als uns Essen und Trinken geben, weil ich würde gerne mir 'ne Unterkunft organisieren oder vielleicht mal Leistungen beziehen oder was zuhause mit meinen Eltern oder mit der WG klären oder, oder ...' Und dann sagen wir: 'Super, toll, das können wir mit dir machen.'"
Alex schaut nach vorn, hat eine Wohnung in Aussicht, möchte eine Ausbildung machen und – wenn alles ruhiger ist – eine Therapie. Der Alexanderplatz lässt Alex trotzdem nicht los:
"Das ist so wie ein magisches Anziehungsfeld. Ich vermisse die Leute da, weil nicht alle scheiße sind. Mit denen hattest du Spaß, mit denen konntest du reden. Ist einfach toll da."