Alexander Betts/Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz
Siedler Verlag, München 2017
327 Seiten, 24,99 Euro
Sachlich und ohne Schnappatmung
Der Migrationsforscher Alexander Betts und der Entwicklungsökonom Paul Collier sind sich sicher: Flüchtlinge haben ein Recht auf Hilfe. Die heutige Flüchtlingspolitik sei aber nicht mehr zeitgemäß: Betts und Collier beklagen die großen Ungerechtigkeiten im heutigen Flüchtlingsmanagement.
Der Migrationsforscher Alexander Betts und der Entwicklungsökonom Paul Collier lassen in ihrem Buch keinen Zweifel daran: Flüchtlinge haben ein Recht auf Hilfe. Der heute maßgebliche Regelkanon der Flüchtlingspolitik sei aber nicht mehr zeitgemäß – wie die Genfer Konvention, die im Kontext von Holocaust, Zweitem Weltkrieg und beginnendem Kalten Krieg entstand. Die meisten Flüchtlinge hätten heute nicht gezielte "Verfolgung" als Einzelpersonen zu befürchten; die Mehrheit fliehe, um der Unsicherheit fragiler Staaten zu entkommen. "Somalische Flüchtlinge fliehen nicht vor staatlicher Verfolgung, sondern vor den Folgen einer Gesellschaft ohne Staat."
Die Autoren beklagen die großen Ungerechtigkeiten im heutigen Flüchtlingsmanagement. Derzeit gibt es nach ihrer Berechnung 20 Millionen Flüchtlinge weltweit. Neun von zehn haben in Entwicklungsländern Zuflucht gefunden, und sie tauchen in den europäischen Debatten kaum auf. Sie sind die Verlierer der aktuellen Entwicklung, wenn zum Beispiel Länder wie Schweden die sowieso schon unzureichenden Hilfen für diese Flüchtlinge drastisch kürzen mit dem Argument, dass man das Geld zur Integration der vielen neuangekommenen Migranten im eigenen Land verwenden müsse.
Werden Flüchtlinge automatisch zu Migranten?
Die Schwächeren unter den Flüchtlingen werden so noch einmal benachteiligt, denn diejenigen, die den Weg in die Wohlstandszonen Europas riskieren und das Geld für die Schlepper aufbringen konnten, stellen bereits eine Auswahl der "Starken" und vergleichsweise Wohlhabenden dar. Wenig schmeichelhaft wird Angela Merkels Aussetzung der Dublin-Regeln im Sommer 2015 als "kopflose Aktion des Herzens" bezeichnet. Der deutsche Sonderweg der Willkommenskultur habe ungeachtet des moralischen Hochgefühls zu "menschlichen Katastrophen und ethischen Zwickmühlen" geführt.
Entscheidend für eine realisierbare Flüchtlingshilfe ist die Unterscheidung von Flüchtlingen und Migranten: "Migranten wechseln aus Hoffnung den Ort, Flüchtlinge fliehen aus Furcht." Dabei ergeben sich allerdings heikle Fragen: Werden aus Flüchtlingen, denen in einem Land Asyl gewährt wird, in dem das Durchschnittseinkommen zwanzig Mal so hoch ist wie in ihrem eigenen (so das Verhältnis Deutschland-Syrien) nicht automatisch Migranten, die auch von einer Verbesserung der Lebensqualität angelockt werden?
Jahrelanges Lagerleben oder eine lebensgefährliche Reise
Flüchtlinge haben heute drei Optionen: Jahrelanges Lagerleben, Armut in den Städten angrenzender Regionen oder die "lebensgefährliche Reise". Viele verharren in den "humanitären Silos" (etwa den großen Lagern in Jordanien) über lange Zeit in Unselbständigkeit und Hoffnungslosigkeit. Diese erzwungene Passivität zu beenden ist ein Hauptanliegen der Autoren im praxisorientierten Teil des Buches. Sie plädieren für die international finanzierte Errichtung von "Sonderwirtschaftszonen" in der Nähe jener Länder, aus denen die Menschen fliehen mussten.
Das oft mit Schnappatmung debattierte Flüchtlingsthema wird von Betts und Collier einer ungewöhnlich sachlichen und luziden Analyse unterzogen, bei der eine Vielzahl von Aspekten zur Geltung kommt – von moralphilosophischen Grundsatzüberlegungen bis zu plausiblen Vorschlägen zur besseren internationalen Organisation der Flüchtlingshilfe. Sehr empfehlenswert.