Russische Mentalität

Der Bär bleibt lieber in der Höhle

Illustration: Ein Hai schwimmt auf einem TV Bildschirm und im Sessel sitzt jemand träge mit Strohhalm im Mund und Schwimmflossen an den Füssen.
Sich verkriechen statt aufbegehren: Das haben Jahrhunderte despotischer Herrschaft in Russland bewirkt, sagt Alexander Estis. © imago / McPhoto
Ein Einwurf von Alexander Estis · 16.03.2022
Wie ticken die Russen? Das fragen sich viele angesichts von Putins brutalem Krieg. Eine einheitliche Antwort gibt es natürlich nicht, meint der russischstämmige Alexander Estis. Aber eine landestypische Eigenschaft sieht er wohl doch.
Die Russen, so dröhnt es von einer Seite, sind von Übel. Nein, so schallt es von der anderen Seite zurück, die Russen sind nur die gegängelten Geiseln eines schrecklichen Tyrannen, die unterdrückten Opfer eines übermächtigen autoritären Systems. Wie ist er also wirklich, der Russe?
Haben wir es, wie ich immer öfter lese, mit dem totalen Arschlochland zu tun, dessen Bürger mindestens gewissenlose Propagandisten und Imperialisten, potenziell aber auch allesamt brutale, blutrünstige Killer sind? Oder handelt es sich um ein bemitleidenswertes Völkchen von jämmerlichen hundertfünfunfvierzig Millionen, die von einem einzigen Despotenputin versklavt, ausgebeutet und als ahnungsloses Kanonenfutter an die Front geschickt werden?

Russland - zu groß für ein einheitliches Bild

Jedem denkenden Menschen dürfte klar sein, dass die Wahrheit irgendwo zwischen diesen Extremen liegt – und ohnehin kein einheitliches Bild ergibt. Denn Russland ist nicht nur groß, sondern, wie es in jeder erstbesten Russlandreportage heißt, das "Land der Gegensätze" schlechthin.
In der Tat wirkt Tschukotka vollkommen anders als die Region Krasnodar, das Leben in Moskau kann man nicht mit demjenigen im Dorf Iwanowka vergleichen, der Mittelstand weiß nichts von den Sorgen tadschikischer Tagelöhner, die oppositionelle Studentin verbindet mit der sowjetnostalgischen Tante Tamara kaum mehr als der Pass – und die Führungsriege bewegt sich ohnehin in einer gänzlich abgesonderten Sphäre. Die unterschiedlichen Menschengruppen haben dabei nur eine sehr vage, nicht selten verdrehte Vorstellung davon, wie die jeweils anderen Gruppen denken und funktionieren.
Selbstverständlich gibt es auch hier im Westen krasse soziale Kontraste, doch ist deren Ausmaß nicht annähernd vergleichbar: Ein bayerischer Bauer unterscheidet sich am russischen Maßstab gemessen in seinen Lebensbedingungen nur unwesentlich von einem Hamburger Journalisten – insbesondere, was seine Möglichkeiten der Informationsbeschaffung angeht.

Man hat als Russe gelernt, nicht aufzubegehren

Aufgrund dieser Fragmentierung scheint mir die Bevölkerungsstruktur Russlands von einer gewissen Sperrigkeit, einer Schwerfälligkeit geprägt. Und auch der durchschnittliche Russe ist wohl weder außerordentlich böse noch ungewöhnlich seelengut, sondern er ist träge.
Darin gleicht er wirklich einem Bären, der seine private Höhle um keinen Preis verlassen möchte – sei auch die Höhle in Wahrheit ein Käfig. Diese Selbsteinkerkerung gründet nicht zuletzt darin, dass vor dem Käfig schon immer der Dompteur mit einem Dressurstab lauert, um das Tier damit zu malträtieren, sobald es auch nur die Schnauze durch die Gitterstäbe zu stecken wagt.
Auf den gestürzten martialischen Zaren folgte in Russland stets ein bestialischer Zar. Revolutionen – ob sie nun reüssierten oder nicht – endeten mit endlosem Blut, und das Unrechtsregime wurde bestenfalls durch ein Regime des Unrechts ersetzt. Ständige Beschneidungen ihrer Freiheit zu erdulden, haben die Russen leidvoll erlernt – in Jahrhunderten, in denen die Dompteure sie durch fortwährenden Schrecken zu einer stumpfen Verfügungsmasse konditioniert haben.

Vom Schurken- zum Schergenstaat

So wurde Russland nicht bloß ein Schurkenstaat, sondern mehr noch ein Schergenstaat. Darin regieren Heere von Handlangern, die sich selbst aus der entmündigten und verschreckten Verfügungsmasse rekrutieren – nur um diese weiterhin in Schach zu halten. So ergibt sich ein Kreislauf des starren Grauens.
Es ist daher zweifellos richtig, diese träge Masse mit zielgerichteten Sanktionen zu provozieren, damit sie in Aufruhr gerät. Man sollte aber nicht nur von außen stoßen, sondern zugleich diejenigen Russen unterstützen, die den starren Staat von innen heraus zu erschüttern versuchen. Das sind nicht wenige, und man sollte mit diesen widerständigen Kräften zusammenwirken, anstatt alles Russische undifferenziert zu dämonisieren. Es lohnt sich. Denn zumindest einen Vorteil hat die träge Masse: Kommt sie einmal in Bewegung, wird es schwer sie aufzuhalten.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren, studierte er in Hamburg und lehrte anschließend deutsche Literatur an verschiedenen Universitäten. Seit 2016 lebt er als freier Autor in der Schweiz. Zuletzt erschien das »Handwörterbuch der russischen Seele« bei der Parasitenpresse Köln.

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