Alexander Gallus: „Intellektuelle in ihrer Zeit“
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Schimpfwort und Premium-Prädikat
05:59 Minuten
Alexander Gallus
Intellektuelle in ihrer Zeit. Geistesarbeiter und Geistesgeschichte im 20. JahrhundertEuropäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022247 Seiten
22,00 Euro
Schon oft hieß es, die Intellektuellen seien tot. Der Ideenhistoriker Alexander Gallus hält es mit den Gegenstimmen: Es leben die Intellektuellen! Sein Buch allerdings ist eine niveauvolle Mogelpackung.
Wer zu den Intellektuellen zählt, das lässt sich noch irgendwie umreißen. Obergrenze Habermas, Untergrenze Precht, in der Mitte Juli Zeh, oder so ähnlich. Was ein Intellektueller ist, ist dagegen viel schwerer zu bestimmen. Denn seit der Begriff "Intellektuelle" während der Dreyfus-Affäre in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, ist seine Bedeutung außer Kontrolle.
Das sieht man schon daran, dass "der/die Intellektuelle" ein geistiges Premium-Prädikat sein kann und genauso ein Schimpfwort – je nach Umständen. Jürgen Habermas selbst identifizierte Max Weber als typischen Intellektuellen, der Intellektuelle 'Intellektuelle“ schimpft.
Obergrenze Habermas, Untergrenze Precht
Indessen wurde oft versucht, dem unscharfen Begriff klare Konturen zu geben. Für Pierre Bourdieu waren Intellektuelle „Anwälte des Allgemeinen“, Michael Foucault kannte den „spezifischen Intellektuellen“, laut M. Rainer Lepsius wählen Intellektuelle „Kritik als Beruf“, Bertolt Brecht band Intellektualität an „eingreifendes Denken“ – und so weiter. Teils genervten, teils theoretisch überaus ausgefuchsten Versuchen die Intellektuellen als solche oder wenigstens als die schlausten Checker des großen Ganzen zu beerdigen, waren nur Teilerfolge vergönnt – vergleiche Jean-Francois Lyotards „Grabmal des Intellektuellen“ von 1985.
Kurz: Die Lage ist kompliziert, also interessant. Und natürlich gibt es längst Tonnen von Büchern, die sich wissenschaftlich mit dem Phänomen 'Intellektuelle' auseinandersetzen – oft verfasst vom Typus des 'Gelehrten-Intellektuellen', dessen Allerheiligstes der Korpus der Texte und nicht die Talkshow ist. Dazu zählt Alexander Gallus, der wiederum ein Verehrer der Intellectual History britischer Prägung und namentlich der Cambridger Schule um Quentin Skinner ist, die sich vor allem mit politischer Ideengeschichte befasst. Haben Sie nie von gehört? Tja, zur Erkenntnis der eigenen Unkenntnis gibt die Lektüre von Intellektuelle in ihrer Zeit sehr oft Anlass. Und das könnte grundsätzlich erfreulich sein – man will ja was lernen beim Lesen.
Erkenntnis der Unkenntnis
Wie Gallus die schriftliche Konfrontation zwischen dem Juden, Nazi-Liebdiener und späteren Mit-Autor der DDR-Verfassung Peter Alfons Steiniger und dem französischen Weltgewissen Jean-Paul Sartre durchdringt – das ist profund und packend. Das Kapitel „Intellektuelle im Zeitalter der Extreme“ eignet sich wiederum, um zu überblicken, wo Intellektuelle ihre geistige Unabhängigkeit (die möglicherweise ihre Kernsubstanz ausmacht) geopfert haben.
Wenn Gallus freilich am Beispiel der textuellen Beziehungen zwischen der Harvarder Politikwissenschaftlerin Judith Shklar und dem Baron de Montesquieu „Rezeptionsgeschichtsforschung als kriminalistische Aufgabe“ vorführt, dürfte im Lesepublikum schon größere Unruhe entstehen. Denn mal ehrlich: Wen interessiert das?
Nichts für ungut
Tatsächlich ist das Buch eine niveauvolle Mogelpackung – nämlich eine Sammlung zumeist älterer Gallus-Aufsätze, die im Innersten fast gar nichts zusammenhält. Der schwammige Untertitel deutet es an. „Geistesarbeiter und Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert“ – darüber ließen sich beliebig viele beliebige Bücher schreiben. Indessen nichts für ungut: "Intellektuelle" ist ein an allen Ecken und Enden ausgefranster Begriff. Gallus präsentiert hier halt die Fransen, die er schon mal näher untersucht hat. Und trägt das Risiko, damit nur wenigen zu gefallen.