Benjamin Steiniger, Alexander Klose: "Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne"
Matthes und Seitz, Berlin 2020
324 Seiten, 26 Euro
Der Stoff, aus dem unsere Welt gemacht ist
06:06 Minuten
Erdöl ist weit mehr als ein fossiler Brennstoff, der das Klima gefährdet – es steckt in vielen für die Moderne wichtigen Produkten, so beispielsweise im Plastik. Ein neues Buch bietet eine unterhaltsame Kulturgeschichte des schwarzen Goldes.
Martin Heidegger hat die Natur in seiner Technik- und Apparatekritik als eine riesige Tankstelle beschrieben. Dieses derbe Bild, das einem Vortrag aus den Fünfzigern entstammt, nehmen die Kulturwissenschaftler Alexander Klose und Benjamin Steininger zum Ausgangspunkt einer Reflexion über die Epoche des Erdöls. Sie tun dies unter der Gattungsbezeichnung "Atlas". Damit verbinden sie den Anspruch, ein Werk zu schaffen, dass sowohl visuell als auch räumlich überzeugt.
Öl als Brennstoff findet sich schon in der antiken Mythologie, denkt man an das olympische Feuer. Die technisch hochgerüstete Exploration von Erdöl nimmt aber erst mit der Industrialisierung Fahrt auf. Der Erste Weltkrieg ist auch der erste "petromoderne" Krieg der Geschichte. In den zwanziger Jahren wird Öl dann zunehmend zu einem Schmiermittel, das den ganzen Planeten via Pipeline geschmeidig macht. "Akzelerationsphase" nennen die Autoren die weltweiten Bemühungen, mit der Hilfe von avancierten Bohrtechniken und Distributionsnetzen der Erde ihren Nektar zu entlocken.
Ein wahrhaft göttlicher Stoff
Bekanntermaßen ist Erdöl nicht nur ein fossiler Kraftstoff. Ein wahrhaft weltumspannendes "natürliches" Produkt wie das Öl bringt auch jenen "künstlichen" Stoff hervor, in dem Roland Barthes in seinen "Mythen des Alltags" nicht nur eine Substanz sehen wollte, sondern "die Idee ihrer unendlichen Transformation": Plastik. Kurz gesagt: Öl ist in allen Dingen von der Vaseline bis hin zum Lockenwickler. Ein wahrhaft göttlicher Stoff, aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg auch viele Dinge des Alltags gemacht wurden, was zu einem beispiellosen Vermüllungsproblem führte.
Aus Öl sind aber nicht nur Dinge, sondern auch Menschheitsträume gemacht. Die Autoren gehen ihnen in 43 nach Schlagworten sortierten Kapiteln auf den Grund. Zum Beispiel bestimmte Männerphantasien, in denen die Erde mit langen Bohrgeräten penetriert wird. Oder Freiheitserzählungen, die mit dem Recht auf Mobilität einhergehen.
Assoziative Wendungen
Mit Roland Barthes verbindet Klose und Steininger auch die assoziative Methode, die im Falle des Öl-Atlas viel Wissenswertes, allerdings auch eine Bremsspur von Jargon nach sich zieht. Von der "Pferdekopfpumpe" geht es munter weiter zur "Pipeline" und von dort weiter zum "Petroporn", einem Kapitel, das sich öligen Arbeiterporträts im Nigerdelta widmet.
In dem Kapitel "Männer und Erdöl" heißt es dann auf einmal nebulös: "Eine queere Sicht auf die gesellschaftlichen Bilder für Energie und Technik eröffnet dagegen die Chance, ein anderes Verhältnis zwischen Industrie, Körpern und Natur zu entwerfen, eines der vielfachen Verflechtungen mit unbestimmten Macht- und Kontrolloptionen, ein multidirektionales und polyzentrisches Geschehen, in dem 'Männer' nur noch einer von zahlreichen Vektoren sind." Nun ja.
Verständlicher wird die aufgeworfene Frage beantwortet, wie das postfossile Zeitalter eigentlich aussehen könnte. Unter dem Lemma "Molekulare Mobilisierung" diskutieren die Autoren zumindest ansatzweise, wie man zur Herstellung synthetischer, also nachhaltiger Kohlenwasserstoffmoleküle gelangt.
Erdöl ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, wie wir sie kennen. Dieses Buch zeigt uns diese Welt auf stimulierende und manchmal etwas neckische Weise.