Alexander Kluge: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann.
Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
316 Seiten, 24,95 Euro
Jetzt als Taschenbuch erschienen, 12 Euro.
Als der Diktator starb, begann die Freiheit
Am 30. April 1945 beging Adolf Hitler Selbstmord. Alexander Kluge fächert in 100 Prosaminiaturen ein Kaleidoskop dieses Tages auf. Dabei ist der Tod des Diktators nur ein Ereignis von vielen, in der Summe der Beobachtungen ergibt sich ein faszinierendes Zeitbild.
Alexander Kluge ist als Schriftsteller ein Stratege, der die Taktik der Einkreisung beherrscht. Er umzingelt geradezu das im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehende Thema. Vor Jahren interessierte er sich für die Lücke, die der Teufel ließ, jetzt interessiert ihn ein Datum.
In seinem neuen Buch bewegt er sich schreibend auf den 30. April 1945 zu. Aus ganz verschiedenen Perspektiven visiert er jenen Tag an, an dem Adolf Hitler Selbstmord beging und als Chronist protokolliert er, was sich an diesem Tag noch ereignete. In "Anstelle eines Nachworts" führt er aus:
"Je länger ich mich mit dem 30. April beschäftigte, desto weniger spielt für mich Hitlers Tod an diesem Tag eine Rolle."
In seinem Buch wird zwar auf historische Fakten zurückgegriffen, aber Kluge erfindet auch Geschichten, denn er hat kein Sachbuch geschrieben. Er umspielt vielmehr die Realität, indem er fiktionalisiert.
So wird eine absurd anmutende Geschichte, wie die von den Hexen auf dem Brocken dadurch beglaubigt, dass sie von einer realen Person erzählt worden ist: der Dramatiker Einar Schleef hat sie von seiner Klavierlehrerin erfahren. In der Walpurgisnacht (es handelt sich um die Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1945) hätten sich die Hexen auf dem Brocken versammelt und den Propagandaspruch "Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los", wörtlich genommen: sie hätten sich "als letztes Aufgebot" verstanden "und sich zum Vernichtungssturm formiert.". Absurdes kommt in Kluges Text nicht zu kurz.
In den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet
Das Ereignis dieses Tages wird von Kluge in den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet, denn er berichtet auch von der Vor- und der Nachgeschichte dieser historischen Zäsur. So wendet er sich zum Beispiel Obamas Berlin-Besuch 2013 zu, wobei dieses Ereignis aus der jüngsten Vergangenheit durch den Zeitfaktor in Beziehung zum 30. April 1945 gebracht wird.
Kurz vor seinem Selbstmord hatte Hitler keine Macht mehr, dafür aber sehr viel Zeit. Zeit wiederum ist ein kostbares Gut des amerikanischen Präsidenten, des mächtigsten Mannes der Welt. Für wichtige politische Entscheidungen hat er kaum Zeit, die er aber bräuchte, denn übereilte Entscheidungen könnten falsch sein.
Nach Hitlers Tod beginnen sich die Menschen neu zu orientieren. Die Soldaten versuchen, in amerikanische Gefangenschaft zu kommen. Männer, die noch Stunden zuvor Häuser für den Häuserkampf herrichteten, setzen nun alles daran, ihr Heim zu schützen. Es findet, ausgelöst durch Hitlers Selbstmord, so Kluges These, eine "Wandlung in den Köpfen der Überlebenden" statt. Für Kluge zeigt es sich durch den Beginn der Westorientierung.
Geschichte in kleinen Erzählungen
Alexander Kluge hinterlegt historische Fundsachen in kleinen Erzählungen – sein Buch versammelt mehr als 100 solcher Prosaminiaturen. Mit dem Faden dessen, der Geschichten zu erzählen weiß, webt er sie aneinander. Jeder einzelne Text steht zwar für sich, doch erst in ihrer Gesamtheit vermittelt diese Zusammenstellung von historischen Bruchstücken ein Zeitbild.