Alexander Kluge/Ben Lerner: "Schnee über Venedig"
Spector Books, Leipzig 2018
368 Seiten, 28 €
Weißes Rauschen
In ihrem neuen Band "Schnee über Venedig" elektrisieren sich der US-amerikanische Dichter Ben Lerner und der deutsche Medienkünstler Alexander Kluge. Dabei entsteht ein einfallsreiches Spiel, meint unser Kritiker, und ein ein sinnlicher Genuss.
Dieses Buch fällt sofort durch seine äußere Gestaltung auf: weiß und kostbar, in einem ambitionierten, international operierenden Verlag. Der auf dem Prinzip der Assoziation aufgebaute Text-Kunst-Band versammelt Prosa von Alexander Kluge, Lyrik des US-Amerikaners Ben Lerner sowie Bilder von Gerhard Richter, Thomas Demand und R.H. Quaytman. Den Anstoß bildete eine Ausstellung in Venedig, in der Fondazione Prada.
Lerner elektrisierte Kluge
Ben Lerner, 1979 geboren, ist einer der interessantesten jüngeren amerikanischer Schriftsteller. Sein Lyrikband "Die Lichtenbergfiguren" schlug beeindruckende poetische Funken aus der von dem deutschen Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg zuerst beschriebenen elektrischen Mustern – er entdeckte sie im Staub einer geladenen Isolatorplatte. Diese Verbindung von exakten, naturwissenschaftlich beschreibbaren Phänomenen mit dem ästhetischen Schöpfungsprozess entspricht einem äußerst gegenwärtigen Erkenntnisinteresse, einige der Gedichte sind jetzt noch einmal abgedruckt.
Alexander Kluge, der mittlerweile 86-jährige mit diversen Genres spielende Medienkünstler, zeigte sich von Lerner buchstäblich elektrisiert und trat sofort in einen literarischen Austausch ein. Dass eine Zeile Lerners wie "Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu" jemanden wie Kluge absolut befeuern muss, leuchtet unmittelbar ein. Ein Großkapitel nennt sich denn auch "Die poetische Kraft der Theorie".
Einfallsreiches Spiel und sinnlicher Genuss
Der Titel "Schnee über Venedig" verdichtet den Dialog in einem Bild. Bei Lerner heißt es einmal: "This is snow falling on Venice" – eine poetische Imagination, die am Mittelmeer natürlich mit dem Zusammenklang unterschiedlicher Vorstellungen spielt, aber in der Form des Schneekristalls auch das Motiv der unendlich verästelten, scheinbar regelmäßigen aber nie restlos zu codierenden Lichtenbergfiguren aufnimmt. Kluge reagiert mit einem kurzen Prosastück "Schnee fällt über Venedig", in dem er sein Prinzip historischer Archäologie anwendet und einen geschichtlichen Horizont umreißt.
Sein Auserzählen bestimmter geschichtlicher Konstellationen wird an den verschiedensten Sujets vorgeführt. Programmatisch wirkt die Konfrontation des durch Walter Benjamin berühmt gewordenen "Engels der Geschichte" von Paul Klee mit einem zweiten Bild von Klee, das direkt mit dem dramatischen "Angelus Novus" korrespondiert: es ist das viel weniger bekannte "Stachel, der Clown". Hier wird dem Malstrom der Geschichte das Prinzip der Groteske und des Witzes entgegengesetzt – und damit auch die Ästhetik Alexander Kluges in nuce ausgedrückt.
Die 21 Venedig-Fotos von Gerhard Richter aus den 70er Jahren, die das spezifische Grün der dortigen Lagune vieldeutig aufladen, scheinen mit den Texten direkt zu kommunizieren. Das Buch ist in erster Linie ein einfallsreiches Spiel, zugleich aber auch ein intellektueller wie sinnlicher Genuss.