Alexandra Litwina (Autorin), Anna Desnitskaya (Illustrationen): "In einem alten Haus in Moskau – Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte"
Aus dem Russischen übersetzt von Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler
Gerstenberg-Verlag 2017
60 Seiten, gebunden, illustriert, 24,95 Euro
ab 12 Jahren
Russische Geschichte für Kinder
Ausgehend von einem Haus und dessen Bewohnern erzählt dieses ungewöhnliche Bilderbuch 100 Jahre russische Geschichte für Kinder. Mit Wimmelbildern und liebevollen Illustrationen gelingt es mit diesem Buch, Politik in anschauliche Alltagserfahrungen aufzulösen.
Nun steht es mitten im neuen Wohnzimmer, das riesige Sofa mit dem roten Samtbezug, den runden Kissen und den dunklen hölzernen Füßen. Wir schreiben das Jahr 1902 und soeben ist die Familie Muromzew in ihre neue Wohnung mit den sechs Zimmern eingezogen. Das Kinderbilderbuch "In einem alten Haus in Moskau", erzählt von Alexandra Litwina und illustriert von Anna Desnitskaya, folgt den Spuren der Menschen, die über einen Zeitraum von 100 Jahren in diesem Haus leben, hoffen, erkranken, in Kriege ziehen müssen und von politischer Verfolgung getroffen werden. Weil dies aber aus der Sicht all der Kinder erzählt wird, die im Laufe der Zeit in dem Haus leben, löst sich die Schwere der großen Politik in viele anschauliche Alltagserfahrungen auf.
Es gibt viel zu entdecken in diesem Buch
1902 ist es die sechsjährige Irina Muromzewa, die aufgeregt vom Einzug in das Moskauer Haus erzählt. Auf einer der riesigen Doppelseiten des Buches ist sie neben dem Textkasten mit ihrer Geschichte zu sehen – grün-getupftes Kleid, schwarze Schleife im Haar. Wie Wimmelbilder präsentieren sich die liebevollen Illustrationen. So viel gibt es in der Wohnung zu entdecken, was heute altmodisch und spannend wirkt, ein geschnitztes Schaukelpferd und den mächtige Kachelofen, Leder-Schlittschuhe und eine emaillierte Badewanne. Überall hat die Zeichnerin Textzeilen mit kleinen Erklärungen verstreut – wem gehört der grüne Hut, wer trägt den Zwicker, was hält Papa Muromzewa in seinem Arztkoffer an Instrumenten bereit?
Von nun an springt jede Doppelseite in der Historie um einige Jahre nach vorn: 1914 tobt schon der Erste Weltkrieg, dessen Eiseskälte die Familie mit einem heimeligen russischen Weihnachtsfest zu verdrängen hofft. 1919 herrscht die blanke Armut, zum Eislaufen kommen die Kinder nicht, denn die ganze Familie muss anstehen für etwas Stockfisch oder einen Kohlkopf. 1927 treten mit der kommunistischen Revolution ein seltsamer neuer Jargon, aber auch interessante Ideen wie die von der Frauenemanzipation in den Alltag der Kinder.
Wahre Schätze an alltagskulturellem Material
Zwischen die Doppelseiten mit den Kindererlebnissen streut das Buch Abschnitte mit historischen Erklärungen. Schätze an alltagskulturellem Material hat Alexandra Litwina aus Memoiren, wissenschaftlicher Literatur, von alten Menschen in Moskau und sogar über Facebookaufrufe zusammengetragen. Anna Desnitskaya präsentiert diese alten Fotos, Briefe, Postkarten, Eintrittsbillets, Waschpulverpackungen und Zigarettenschachteln als Reproduktionen oder Zeichnungen in wunderbarer Fülle.
Die Erklärungen – etwa zur russischen Revolution, dem Kalten Krieg oder der Perestroika – helfen sehr, denn ganz einfach ist das mit der russischen Geschichte für Kinder hierzulande sicher nicht zu begreifen, auch wenn ein Glossar hinten im Buch weitere Hilfestellung leistet. Dort ganz hinten, beim Jahr 2002, sieht man es auch wieder: Das große rote Samtsofa hat die Wirren der Zeit überlebt. Wie schön, das der Gerstenberg Verlag dieses ungewöhnliche Buch in deutscher Sprache zugänglich gemacht hat.