Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte
Piper Verlag, München 2016
352 Seiten, 22 Euro, E-book 16,99 Euro
Die Macht nationalsozialistischer Ideologie
Was die Nazis dachten und taten, ist für ihre Nachkommen bis heute eine psychische Belastung. Alexandra Senfft hat für mit einigen gesprochen, die zur Aufarbeitung bereit sind. Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen.
Das neue Buch von Alexandra Senfft "Die Langen Schatten der Täter" beginnt mit der Beschreibung des Andrangs vor der Lüneburger Ritterakademie. Ein neugieriges Publikum wartet auf Einlass, um am Prozess gegen den 94-jährigen ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning teilzunehmen. Die Anklage lautet auf Beihilfe zur Ermordung von 300.000 Juden im Sommer 1944 in Auschwitz. Wegen des großen öffentlichen Interesses war man aus dem kleinen Lüneburger Landgericht an eben diesen Veranstaltungsort umgezogen. Gedacht eigentlich für Kultur und Unterhaltung.
"Während meine Freunde und ich geduldig darauf warten, den Rittersaal betreten zu dürfen – wir gehen von rund drei Stunden Wartezeit aus –, fährt ein Wagen vor, und ein älteres Paar steigt aus. Geschäftig holen sie Klappstühle und einen Picknickkorb heraus. Sie haben die Plätze fünf und sechs in der sich nun rasch verlängernden Schlange und sind offensichtlich schon gut auf das Geschehen eingespielt. Die Frau hat rote Haare und blaue Augen und setzt sich neben uns auf den Klappstuhl. Rasch kommen wir auch mit ihr ins Gespräch. Sie heißt Bernadette Gottschalk und ist mit einem Nebenkläger verwandt: Imre Lebovitz war mit seinen 86 Jahren eigens aus Budapest zum Prozess angereist und hatte im Mai am 8. Verhandlungstag im Zeugenstand ausgesagt. Nur durch einen glücklichen Zufall war er nicht nach Auschwitz deportiert worden, seine Familie hingegen schon: 'Auf Wiedersehen als Dünger', bemerkte ein Nazi-Richter…"
Ins Leugnen und Schweigen hineingeboren
Eindrucksvoll gelingt es Alexandra Senfft, die unterschiedlichen Beweggründe der Wartenden einzufangen und sie mit ihrer eigenen Familiengeschichte sowie mit allgemeinen Betrachtungen und Fragen zu verbinden:
"Ich war zwar damit aufgewachsen, dass der Vater meiner Mutter ein Nazi war, und hatte dazu stets eine klare ablehnende Haltung. Doch auch ich hatte bis ins Erwachsenenalter nie genauer gefragt oder gar recherchiert, was seine Funktion als SA-Mann in Süddeutschland und dann als Gesandter in der Slowakai praktisch bedeutet hatte. Ich bin in das Leugnen und Schweigen hineingeboren worden und habe das verklärende Familiennarrativ lange unbewusst mitgetragen oder jedenfalls nicht hinterfragt. Früh stellte ich fest, dass ich meine Mutter mit jeder Frage nach meinem Großvater verletzte, und so tat ich, was Kinder in solcher Situation eben tun: Ich schonte sie durch Nichtfragen."
"Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte" – Der Untertitel des Buches legt nahe, dass Alexandra Senfft ihre Leser mit verschiedenen, durchaus gegensätzlichen Umgangsweisen bekannt macht, wie Nachkommen von Tätern den Erfahrungen ihrer Eltern, Großeltern oder mittlerweile Urgroßeltern begegnen, und welche Auswirkungen das jeweils hatte. Immerhin geht es um die so genannte transgenerationale Übertragung, also um die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen von einer Generation auf die nächste.
Betroffenheit der Autorin und Narrative der Portraitierten
Die 1961 geborene Publizistin und Islamwissenschaftlerin schreibt in ihrem ausführlichen Vorwort, dass es sich bei ihren Gesprächspartnern überwiegend um Leser ihres Buches "Schweigen tut weh" handelt und führt weiter aus, dass sie ihren Gesprächspartnern gegenüber "keine akademische oder journalistische Distanz" einnehme und dass sie "nicht tief in das Narrativ" eingreife. – Dies aber weist auf eine leider nicht unerhebliche Schwäche des Buches hin:
Das angekündigte, wenn auch heruntergespielte Eingreifen in die Narrative der Anderen sowie der erklärte Mangel an akademischer oder journalistischer Distanz führen dazu, dass sich persönliche Geschichte und Betroffenheit der Autorin mit den Narrativen ihrer Gesprächspartner vermischen. Daraus entsteht eine Unschärfe, die es dem Leser schwer macht, den Motiven, Gefühlen und Gedanken der Portraitierten näher zu kommen: Was führte zu ihrem jeweiligen Zögern? Was zum Schweigen?! Hinzu kommt, dass sich Alexandra Senfft als Gesprächspartner ausschließlich Gleichgesinnte gesucht hat, die schon lange vor den Interviews begonnen hatten, sich kritisch und zum Teil auch öffentlich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Das ist zwar zulässig, engt den Fokus aber auch sehr ein. Ergiebiger wäre es gewesen, auch nach Menschen zu suchen, deren Familien sich weiterhin weigern, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren und ihre Zerrissenheit zu hinterfragen. Gerade heute, wo sich in manchen Teilen der Bevölkerung eine Stimmung des "es muss einmal genug sein" breit macht, hätte das Buch einen viel deutlicheren Kontrapunkt setzen können.
Autorin manipuliert Blick des Lesers
Obwohl es der Autorin an vielen Stellen gelingt, Orte und Lebensläufe zu verbinden sowie Informationen anderer Autoren mit eigenen Überlegungen zu verknüpfen, macht dieses Buch – wie sein Vorgänger – den Eindruck, dass es Alexandra Senfft vor allem um sich selbst und die eigene Aufarbeitung und eben nicht um die im Untertitel benannte Allgemeinheit der Nachkommen geht. Viel zu oft bewertet oder vereinfacht Senfft die Aussagen ihrer Gesprächspartner oder versäumt es, genauer nachzufragen. Und anstatt das Gesagte dann in der Schwebe zu belassen, färbt sie es mit ihrer Meinung ein und manipuliert damit den Blick des Lesers – wofür sie sich gern des Wörtchens "vermutlich" bedient:
"Vermutlich reagierte sie mir ihrer rebellischen Art auf die emotionale Überforderung durch ihre depressive Mutter". Oder: "Man zog es vermutlich vor, wegzusehen", "Die Erinnerungen an Bruno verdrängte sie vermutlich", oder: "Es war für Hildegard, ... als alleinerziehende, berufstätige Mutter vermutlich ein anstrengendes und emotional wenig freudiges Leben"."
Das Buch hat also Schwächen. Sollte man es deshalb aus der Hand legen? Ganz und gar nicht. Die Geschichte wirft lange Schatten. Und gerade jetzt, wo im Zuge der so genannten "Flüchtlingskrise" xenophobe Argumente wieder salonfähig werden, ist ein solches Besinnen auf die ganz persönliche Geschichte unerlässlich – eben wegen der Auswirkungen dieser "Schatten" und der Gründe, die dahinter stehen. Alexandra Senfft macht mit ihrem Buch deutlich, wie inhumanes Denken und Handeln noch künftigen Generationen zur psychischen Last werden.