Alexei Salnikow: „Petrow hat Fieber“
© Suhrkamp
Wodka im Leichenwagen
06:59 Minuten
Alexei Salnikow
Übersetzt von Bettina Kaibach
Petrow hat FieberSuhrkamp, Berlin 2022368 Seiten
25,00 Euro
Petrow hat die Grippe und spült Tabletten aller Art mit Wodka hinunter. Ganz Swerdlowsk liegt im Fieber, bleibt aber nicht liegen. Sogar die Leiche, auf deren Sarg Petrow mit Freund Igor pichelte, steht wieder auf.
Aspirin, Analgin, Paracetamol, Antigrippin, Selonka, Corvalol, Valocordin, Clonidin – Petrow hat Fieber, er nimmt ein, was er kriegen kann und spült es mit Tee und Wodka hinunter.
„Petrow hat Fieber“ von Alexei Salnikow ist, so die innovative Gattungsbezeichnung, ein „Gripperoman“. Die Infektionskrankheit grassiert Mitte der Nullerjahre in Swerdlowsk am Ural, hindert aber kaum jemanden daran, wie üblich durchs Leben zu treiben.
Jäger des Augenblicks
Petrow hatte schon als Kind das Gefühl, das Gedächtnis verloren zu haben und mit ihm jeden Halt. Selbst die Erinnerung an den Abend zu Beginn des Romans ist verschwommen: Damals kippten er und sein Bekannter Igor sich in einem Leichenwagen über dem Sarg einen Wodka nach dem andern hinter die Binde.
Es ist, als habe „man in seinen Kopf ein Dia eingesteckt und wieder herausgezogen“. Daher hält der Kranke bei seinen Gängen und Fahrten durch die Stadt, die ihre Konturen in Schnee und Eis verliert, Augen, Ohren und Nase so weit offen wie möglich.
Außerdem zeichnet der Automechaniker ohne künstlerische Ambitionen Comics, in denen ein Junge Außerirdischen in einer Parallelwelt aus der Patsche hilft, um dann tapfer in seine trüb-aussichtslose Situation auf der Erde zurückzukehren.
Petrow ist Fatalist, Eskapist und Jäger des Augenblicks, dem jede Beute sofort entgleitet.
Tablette mit Wirkung
Dem Leser schenkt diese fortwährende Kollision von stoischer Lebenshaltung und postsowjetischer Wirklichkeit heitere Augenblicke. Mit einer an die Popliteraten erinnernden Aufmerksamkeit für den Alltag verzeichnet Salnikow einen Kosmos von Verhaltensweisen, Produkten und städtischen Orten.
Ein Erbe des Sozialismus ist die erstaunliche Belesenheit aller Figuren. Sie kennen Nabokov und Bret Easton Ellis, „Harry Potter“ und sowjetische Kinderbücher. Tschechows Satz über das Gewehr auf der Bühne reformulieren sie: Wenn der Held zu Beginn eines Stückes eine Tablette schlucke, müsse sie am Ende unbedingt wirken. Tröstender war die Literatur nie für Grippekranke.
Petrow ist nicht allein, jedoch geschieden, was die Beziehung zu Petrowa und Petrow Junior aber nicht wesentlich verändert hat. Petrowas Sicht auf die Welt ähnelt der ihres Ehemanns, doch die zwei Kapitel, in denen Salnikows Erzähler nicht ihm, sondern ihr nahe ist, fallen ein wenig ab: Petrowa fehlt Petrows Mischung aus Lakonie und Schlendrian, Witz und Ergebenheit, die an Wenedikt Jerofejews alkoholgetränkten Kultroman „Die Reise nach Petuschki“ denken lässt. Dafür überfallen die Frau zuweilen veritable Mordgelüste.
Schemen im Hades
Abgründiges ist auch von Igor zu hören. Er stellt sich als Gott Hades vor und ist Petrow für eine Lebensrettung dankbar, von der dieser nichts weiß. Die Frauen glauben ihren Männern allerdings nichts, schon gar nicht das Wodkatrinken im Leichenwagen und die Wiederauferstehung des Toten.
Der 2016 in Russland erschienene Gripperoman ist eine lässig-kunstvolle Allegorie auf eine atomisierte, orientierungslose Gesellschaft. Er endet mit dem Neujahrsfest, auf dem die grippal erhitzte Hand von Petrow Junior die kalte der Schneejungfrau fasst. Mit dem Kurzschluss von Gegenwart und Tradition kommt Alexei Salnikows Buch über ein Land im Fieber an ein versöhnliches Ende.