Alexej Nawalny: "Patriot"

Er hatte keine Angst vor Putin - aber Putin vor ihm

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Die linke Gesichtshälfte von Alexej Nawalny ist auf dem Buchcover von "Patriot. Meine Geschichte" zu sehen.
© S. Fischer Verlage

Aus dem Englischen von Rita Gravert, Norbert Juraschitz, Katrin Schuler

Patriot. Meine GeschichteS. Fischer, Frankfurt am Main 2024

543 Seiten

28,00 Euro

Rezensiert von Andrea Lieblang |
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Alexej Nawalny starb im Februar 2024 in der Strafkolonie „Polarwolf“ in Sibirien. Von Putins bekanntestem Gegenspieler in Russland ist posthum das Buch "Patriot" erschienen - eine Mischung aus Autobiografie, Gefängnistagebuch und Postings.
Die Deutungshoheit über sein Leben wollte er in keinem Fall Wladimir Putin überlassen. Deshalb begann Alexej Nawalny schon mit 44 Jahren, seine Autobiografie zu schreiben – zunächst in Deutschland nach seiner Genesung von einem Giftanschlag. Mit einer Rückblende auf dieses Ereignis eröffnet er sein Buch.

Ich lege mich auf den Boden der Bordküche. Ich falle nicht hin, breche nicht zusammen, verliere nicht das Bewusstsein. […] Schließlich sterbe ich, und Menschen sterben – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – im Liegen. […] Spoileralarm: Ich bin natürlich nicht gestorben.

Alexej Nawalny

Im folgenden ersten Teil, rund 300 Seiten, geht es um Nawalnys politische Entwicklung. Er wuchs in privilegierten sowjetischen Verhältnissen in einer Militärsiedlung nahe Moskau auf. Nawalny studierte Jura in den so genannten „verfluchten 1990er-Jahren“, als Russland in Korruption versank. Sie wollte Nawalny bekämpfen.

Rechtsextreme Protestmärsche

Deshalb schloss er sich 1999 der demokratischen Partei Jabloko (zu deutsch: Apfel) unter Grigori Jawlinski an. 2007 kam es zum Bruch wegen seines, so formuliert es Nawalny, „angeblichen Nationalismus“. Tatsächlich hatte er für den Rechtsextremen Wladimir Schirinowski Protestmärsche organisiert und Parolen skandiert wie „Russland den Russen“ oder „Wir wollen den Kaukasus nicht mehr durchfüttern“. Schade, dass er sich nicht eindeutiger distanziert und stattdessen in seinem Buch Standardargumente wiedergibt.

Der Kern meiner politischen Strategie besteht darin, […] mit jedem einen Dialog zu führen. Ich kann auch zu den Demokraten reden, weil ich selbst einer bin. Ein ernsthafter politischer Führer kann nicht einfach beschließen, einer großen Zahl seiner Mitbürger den Rücken zuzukehren, weil ihm persönlich deren Ansichten nicht gefallen.

Alexej Nawalny

Korruption im Staatsunternehmen Rosneft

Bald wurde sein politisches Profil eindeutiger. Als Anwalt deckte Alexej Nawalny immer mehr Korruptionsfälle auf: Zum Beispiel kaufte er Anteile am riesigen Staatsunternehmen Rosneft. So bekam er das Recht auf Einsicht in die Sitzungsprotokolle. Sie bewiesen, dass der immense Profit von Rosneft nicht an die Aktionäre ausgeschüttet wurde, sondern in voller Höhe zurück ins Staatsunternehmen floss und von dort in die Taschen der Beamten. Seine Enthüllungen stellte er ins Internet. Wie kaum ein anderer Politiker hatte Nawalny die Chancen des neuen Mediums früh erkannt.
Als 2011 Wahlen zur Staatsduma bevorstanden, zeigte er sich äußerst gewitzt:

Die Partei "Einiges Russland" ist die Partei der Korruption, die Partei der Gauner und Diebe. […] In meinem Blog bat ich darum, diesen Ausdruck so oft wie möglich zu wiederholen, und bald war, wenn man die Worte "Einiges Russland" in die Suchmaschine zu tippen begann, der erste Vorschlag: "Partei der Gauner und Diebe".

Alexej Nawalny

Fingierte Vorstrafen verhinderten Kandidaturen

Es schien, als habe Putin Angst vor Nawalny, weil dieser keine Angst vor Putin hatte. Deshalb zwang er den charismatischen, 1,90 Meter großen Nawalny mit fingierten Anklagen ins Gefängnis. So konnte Putin dessen Bewerbungen um das Moskauer Bürgermeisteramt und das des Präsidenten verhindern. Denn als Vorbestrafter durfte er sich für Wahlen nicht registrieren lassen.
Nawalny ließ sich nicht beirren. Er saß bereits in Haft, als eins seiner wichtigsten Investigativ-Videos 60 Millionen Klicks bekam: In „Putins Palast“ entlarvte Nawalny dessen absurde Verschwendungssucht.

Ich hasse Putin, weil er Russland um die letzten zwanzig Jahre beraubt hat. […] Wir alle hätten ein besseres Leben führen können. Stattdessen leben zwanzig Millionen Menschen unter der Armutsgrenze.

Alexej Nawalny

Haftbedingungen wie im Gulag-System

Der zweite Teil seiner Autobiografie besteht aus Tagebuchaufzeichnungen und Posts aus verschiedenen Straflagern. Was Nawalny Kraft gab, waren Tausende von Trostbriefen wildfremder Menschen und seine Familie. Erschütternd ist, wie sehr Nawalnys Haftbedingungen an Stalins Terror im Gulag-System erinnern. Die Methoden sind gleichgeblieben.
Warum er überhaupt nach Russland zurückgekehrt sei? Diese oft gestellte Frage ging ihm zunehmend auf die Nerven.

Ich werde mein Land nicht ihnen überlassen. […] Ich betrachte meine Situation nicht als schwere Last oder als ein Joch, sondern als einen Job, der gemacht werden muss. Jede Arbeit hat ihre unangenehmen Seiten, stimmt‘s?

Alexej Nawalny

Die Bergpredigt auswendig gelernt

Man kann in dieser Haltung das Ausblenden seiner Gefahr sehen oder eine überzogene Gelassenheit. Was Nawalnys Überzeugung tatsächlich stärkte, waren seine Meditationen und sein Glaube. Berührend sind die Passagen, in denen er schildert, wie er die Bergpredigt auswendig lernt. Seine Gewissheit, im Lager zu sterben, notiert er bereits knapp zwei Jahre vor seinem Tod:

Es gibt einen Wahnsinnigen namens Wladimir Putin, der hin und wieder ein Zucken im Gehirn hat, einen Namen auf einen Zettel schreibt und befiehlt: Bringt ihn um.

Alexej Nawalny

Alexej Nawalny ist ein gleichermaßen berührendes wie verstörendes Buch über sein Leben als Putins Gegner gelungen: leicht lesbar, an vielen Stellen durchzogen von Selbstironie und Galgenhumor. Sein letzter Tagebucheintrag stammt vom 31.12.2023, sechs Wochen vor seinem bis heute ungeklärten Tod:

Alles, was ich getan habe, war richtig. Ich empfinde Zufriedenheit. […] Fühle mich nicht einsam oder isoliert. Meine Stimmung ist großartig und ziemlich weihnachtlich. |…] Arktische Umarmungen und polare Grüße. Ich liebe euch alle.

Alexej Nawalny

Physisch hat Putin ihn vernichtet. Psychisch aber zeigt ihm Nawalny mit diesem Buch, dass er ihn niemals hat brechen können.
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