Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie
720 Seiten, 29,95 Euro, eBook 24,99 Euro
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
Er war das Original
Der schon zu Lebzeiten berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr war eitel, ätzend, klug. "Er ist als Autor erkennbar schon am ersten Satz", schreibt seine Biografin Deborah Vietor-Engländer. Und Kerr tanzte auf allen Hochzeiten des Berliner Lebens − bis 1933.
Er sprach schon mal gehässig von einem "Achtungsdurchfall", bescheinigte billigen Komödien, sie seien bei der Premiere "totgelacht worden" und verkündete im Brustton der Überzeugung: "Mein Amt auf Erden war, gegen die Dramatiker zu kämpfen."
Eine narzisstisch-satirische Übertreibung. Ohne den 1867 geborenen Kritiker Alfred Kerr wäre Gerhart Hauptmann nicht zum wichtigsten Stückeschreiber des Kaiserreichs aufgestiegen, und der K.u.K.-Maschinenbauingenieur Robert Musil hätte kaum den Weg in die Literatur gefunden. Mit Thomas Mann, Karl Kraus und Bertolt Brecht verbanden ihn dagegen Dauerfehden, die sich ihrerseits – auf Zeitungspapier kunstvoll ausformuliert – bis heute mit Genuss lesen lassen.
Seine Theaterkritik war ein Markenzeichen
Im Zenit der Zeitungskultur führte Alfred Kerr vor, wie großartig Feuilleton sein kann: "Er ist als Autor erkennbar schon am ersten Satz" schreibt seine Biografin Deborah Vietor-Engländer. Kerr hatte einen Sprachsound, bevor es den Begriff überhaupt gab:
"Temperament, Wachheit, Biss, Kürze, Prägnanz, Wortkraft und treffender Witz. (…) Er war das Original. Unvergleichbar, in Form und Sprache. Wie ein Markenartikel stand seine Kritik in der Abendausgabe der Zeitung."
Vietor-Engländer zeichnet den Aufstieg des jüdischen Intellektuellen aus Breslau nach, der zur rechten Zeit in die deutsche Hauptstadt kam und dort Furore machte. Zugleich belieferte er Provinzblätter (erst in Breslau, dann in Königsberg) mit "Briefen aus Berlin", in denen sich die geistige und gesellschaftliche Physiognomie des Kaiserreichs spiegelte. Genauer: Das Hauptstadtleben muss Gnade vor den Augen eines unerbittlichen und durchaus eitlen Richters finden, der von sich sagte, "dass ich fortwährend unbewusst sichte: zwischen Recht und Unrecht rings; fortwährend Recht innen bejahe, Unrecht nulle."
Kerr tanzte auf allen Hochzeiten, auch wenn ihm die eigene erst spät glückte. Dass mehr als die Hälfte des Buches damit eher eine Kulturgeschichte gleicht als einer Biografie mit intimen Einblicken ins Privatleben, ist dieser Tatsache geschuldet. Bis zu seinem 50. Geburtstag erfüllte sich Kerrs Leben im Schreiben, sein Privatleben ist kaum dokumentiert. Erst danach heiratete er, wurde rasch Witwer und heiratete kurz darauf noch einmal, als sei die erste Ehe ein emotionaler Dammbruch gewesen.
"Hitler ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat"
Erst ab diesem Zeitpunkt wurde er Familienmensch, während sich zugleich sein gesellschaftliches Bewusstsein verschärfte und über ästhetische Fragen hinauswuchs. Kerr schrieb sehr früh und sehr mutig gegen die Nazis an und nutzte dazu auch das neue Medium Radio. Sein Stil wurde noch ätzender, seine Verdikte blieben klarsichtig: "Hitler: Das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat." Neun Worte, die die Wurzeln des nationalsozialistischen Ideengemenges bloßlegten.
Der sich zu seinem jüdischen Glauben stets bekennende Kerr musste dann bereits Anfang Februar 1933, hoch fiebernd, den Nachtzug nach Prag besteigen und aus Deutschland fliehen. Millionen Menschen in aller Welt wissen davon, denn das ist eine zentrale Szene in Judith Kerrs Kinderbuch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Der spätere Welterfolg von Kerrs Tochter – und der berufliche Aufstieg seines Sohnes Michael zum Richter am Londoner High Court – lassen die Emigration vordergründig als geglückt erscheinen.
Elend im Exil
Tatsächlich aber, und das schildert Deborah Vietor-Engländer im hinteren Drittel des Buches eindrücklich, lebten Alfred Kerr und seine Frau zunächst in Frankreich, dann in England in elenden Verhältnissen. Vom großbürgerlichen Lebensstil in Berlin war nichts übrig geblieben. Sie hausten 15 Jahre lang in billigen Hotelzimmern, monatelang von den Kindern mit deren Internatsstipendien getrennt.
Dass Kerr erst allen Lebensmut verlor, als er auf seinem Jungfernflug 1948 einen Schlaganfall erlitt und danach von eigener Hand aus dem Leben schied, gehört zur bewundernswürdigen Lebensleistung dieses Mannes: Aufgegeben hat er erst, als ihm die Sprache zu entgleiten drohte. Doch noch die Abschiedsbriefe an Frau und Kinder sind ergreifende Zeugnisse eines sprachgewaltigen und unbeugsamen Geistes.