Marcel Schütz ist Research Fellow im Fachbereich Betriebswirtschaft an der Northern Business School Hamburg und lehrt an den Universitäten Bielefeld und Oldenburg. Sein Schwerpunkt liegt in der Organisationsforschung und -beratung. Zuvor war er im Personalmanagement in Unternehmen tätig. Aktuelle Veröffentlichungen: "Compliance-Kontrolle in Organisationen. Soziologische, juristische und ökonomische Aspekte" und "Unverstandene Union. Eine organisationswissenschaftliche Analyse der EU".
Die neue Macht der Maschinen
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Ob Kreditvergabe, Risikoanalyse oder Personalauswahl: Immer öfter entscheiden nicht Menschen über solche Fragen, sondern Algorithmen. Vermeintlich neutral und ohne Vorurteile. Wäre da nicht der Mensch, der die Maschine programmiert.
Auf den ersten Blick liest sich der Magazin-Artikel futuristisch, doch es ist Realität: Ein Roboter ist programmiert, Auswahlgespräche für neues Personal zu führen. So fragt er, wie ein typischer Sonntag für die Bewerber aussieht oder welche Urlaubsdomizile bevorzugt werden. Selbstredend sind diese Fragen kaum geeignet, konkrete Fähigkeiten zu prüfen. Wörtlich heißt es: "Was die Bewerber fachlich drauf haben, ist erst einmal zweitrangig. Auch was sie erzählen, ist egal, entscheidend ist, wie sie es erzählen: Anhand von Stimme, Satzbau, Intonation und Wortschatz findet der Versicherer heraus, ob ein Bewerber zur Firmenkultur passt – oder eben nicht."
Anhand von Stimme und Satzbau wird ermittelt, ob neues Personal passt oder nicht? Wortschatz würde man sich noch gefallen lassen, aber Intonation? Und wie ist es mit Dialekt? Wer weiß. Jedenfalls bedient sich die Software eines Algorithmus. Das heißt, eines wiederkehrenden Lösungswegs, der mithilfe mathematischer Verfahren abgebildet wird. Hiermit werden zwei Ziele verfolgt: Kostenersparnis und Abbau von Bevorzugung beziehungsweise Benachteiligung durch Emotion. Wo einst geschulte Mitarbeiter der Personalabteilung sprachen, haben die Bewerber zunächst mit Maschinen als den Entscheidern vorliebzunehmen.
Die Qual der Wahl "verflüssigen"
Algorithmen können Entscheidungen auf raffinierte Weise abkürzen. Die Palette der Anwendungsfälle ist denkbar breit: Von der Kreditprüfung über Risikoanalysen bis zur Personalauswahl. Nur, was heißt hier eigentlich Entscheidung? Streng genommen "entscheidet" ein Auswahlalgorithmus nicht klassisch, er errechnet. Algorithmen verflüssigen die gewohnte Qual der Wahl, indem sich ihre Ermittlungen auf schnelle, diskrete und geräuschlose Art ereignen, geradezu "sozialschwach".
Doch auch die algorithmische Technologie wird weiterhin mit Daten bespielt. Der Mensch assistiert der Maschine beim Assistieren des Menschen. Das klingt paradox, doch ist es die Konsequenz jener Vorannahme, wonach Personen sich in ihren Entscheidungen misstrauen sollten. Ein Bewerber passt nicht zur Kultur? Falsche Wörter, zu viel Provinz in der Stimme?
Ein "digitales Delphi"
Algorithmen sagen, "was Sache ist", sie ziehen diskursive Grenzen. Und das, obwohl ihre Operationen auf vorangehenden Annahmen gründen. Eine Firmenkultur fällt nicht vom Himmel, sie ist normativ gesättigt, vor Vorurteilen nicht gefeit. Jeder Ermittlung geht eine Programmierung voraus. Der Auswahlalgorithmus validiert sich so letztlich selbst. Und er bietet eine Art moderne Weissagung im High-Tech-Format: ein organisiertes Orakel oder "digitales Delphi". Schon dessen Botschaften waren in allen Lebenslagen gefragt.
Es ist vielleicht eine Ironie, dass jene Technik, die wir gerade von sozialen Verstrickungen befreit wissen wollen, so nachhaltig auf das soziale Leben Einfluss nimmt: Dass wir also unsere Vorurteile so sicher überwunden sehen und das Einprogrammieren derselben kunstvoll invisibilisieren. Die Entscheidung lässt sich auf kommode Weise delegieren. Der Mensch denkt, der Algorithmus lenkt. Und seine eigentliche soziale Funktion ist es dann, den Menschen darüber zu informieren, dass er jetzt nichts mehr falsch macht. Und wenn doch, dann findet sich auch dafür noch eine Lösung – natürlich: per Voreinstellung.