Algorithmen im Alltag

Zu viel Bullshit, zu wenig Eigenverantwortung

Gehende Menschen abhängig von digitaler Technologie
Muss ein Algorithmus entscheiden, ob unser Schrittpensum ausreichend ist? © imago/Ikon Images
Ein Einwurf von Hans von Trotha · 11.01.2019
Sinnlose Arbeit wird neuerdings als Bullshit-Job bezeichnet. Auch bei der Smartphone-Nutzung beobachtet der Publizist Hans von Trotha einen Trend zum Bullshit. Eine App zu fragen, ob wir täglich genügend Schritte tun, sei reine Zeitverschwendung
Wie Bäume ihre Äste und Zweige so treiben große gesellschaftliche Entwicklungen ihre kleinen Brüder und Schwestern in unserm Alltag hervor. Darüber redet man nicht so gern – weil große, wichtige Dinge dann schnell banal und kleinlich wirken. Wie Bullshit.
Als "Bullshit-Tätigkeit" hat die Soziologie Arbeit ausgemacht, die keine echte Arbeit ist, weil sie nichts Sinnvolles befördert, Geld für eine Art Beschäftigungstherapie – bezahlter Bullshit. Das ist Arbeitsrealität 3.0. Alltagsrealität 4.0 – also das Zweiglein, das an diesem Ast nun sprießt – sind Bullshit-Algorithmen.

Fortschritt braucht Überraschungen und Umwege

Ein Algorithmus ist eine eindeutig vorgegebene Vorgehensweise zur Lösung eines Problems. Und genau darin liegt das Problem: Dass wir nämlich bei den meisten Fragen, erst einmal nicht genau wissen, wie wir vorgehen sollen. Der Weg ist dann das Ziel zur Lösung: voller Überraschungen und Umwege. So ist es früher zu Entwicklungen in der Gesellschaft gekommen.
Etwas ganz anderes ist es, wenn wir zur Problemlösung auf von unbekannten Informatikern programmierte Algorithmen zurückgreifen. Den meisten ist das aber egal. Sie wollen einfach nur nicht selbst entscheiden.
Nun ist es einem Algorithmus wiederum egal, ob er ein echtes Problem löst oder irgendwelchen Quatsch entscheidet. Womit wir wieder beim Bullshit wären. Dabei zum Beispiel, dass Sie, geben Sie es zu, gestern Abend wieder geschaut haben, ob Ihr Telefon findet, dass Sie am Tag genügend Schritte getan haben – dasselbe Telefon, das längst die Aufgaben der hübschen Agenda übernommen hat, in die Sie früher per Hand Ihre Termine eingetragen haben, und das Ihnen sagt, wann Sie die Reifen an Ihrem Auto wechseln sollen und wann Ihnen kalt ist.
Es zeigt Ihnen auch den Weg – auch die paar Wege, die Sie wirklich selbst kennen, denn da schalten Sie ein, um zu vergleichen, ob der Algorithmus die gleiche Lösung für das Problem "Weg" findet wie Sie. Und dann? Welchen Weg nehmen Sie nächstes Mal?

Smartphones verführen zur Zeitverschwendung

Das Smartphone ist eine großartige Entwicklung. In ihm fließt alles zu einer Lösung zusammen, was zeitgemäß ist. Doch aus ihm sprießende Zweige wie Siri, Alexa oder Bixby haben für alles einen Bullshit Algorithmus. Nicht etwa die sind das Problem, sondern wir. Wir nehmen uns zu viel Zeit für Bullshit. Und zwar weil wir das tiefsitzende Bedürfnis haben, jemandem, der nicht wir selbst sind, die Verantwortung für unser Tun zu übertragen, aus Angst, wir könnten auf der eigenen Lösung unserer eigenen Probleme sitzen bleiben.
Die vielen Bullshit-Apps und Bullshit-Algorithmen in unseren Telefonen sind ein gigantisches Geschäft mit dieser Angst, eine Verzweigung der aggressiven Versicherungsmakelei: Schließlich war versichern, neben beten, einmal die einzige Möglichkeit, sich vor den eigenen Entscheidungen zu schützen. Es geht um Delegation. Wir delegieren, was wir nur delegieren können, idealerweise an jemanden, der sich gut versichert hat gegen mögliche Folgen falscher Lösungen unserer Probleme. Aber – hat nicht jedes Problem auch einen größeren Zusammenhang?

Mehr Selbstbestimmung statt delegieren an Algorithmen

Die Routensuche etwa auf einem zerknäulten Stadtplan hat nebenbei einige nicht programmierte Probleme gelöst: Wir haben uns im großen Ganzen der Stadt verortet, ein Gefühl für die Länge der Strecke entwickelt und an den Rändern vieles mitbekommen. Wir waren orientiert. Jetzt sind wir nur da. Der Ast, auf dem wir sitzen, ist kahl.
Nichts liegt mir ferner als Kulturpessimismus. Das Smartphone ist unsere Zeit – und wir leben in einer guten Zeit, wenn wir wollen. Aber nach dem Motto eines soeben erschienen Buchs mit dem Titel "Schnauze, Alexa!", sollten wir den Ast, auf dem wir sitzen, nicht beständig von anderen kahl scheren lassen, sondern immer wieder auch mal selbst entscheiden, welches Zweiglein wir da blühen sehen wollen. Es darf auch Bullshit sein. Solange es Bullshit ist, den wir ausgesucht haben und der uns hilft oder Spaß macht. Egal, was das Telefon sagt.

Hans von Trotha, geboren 1965, hat in Heidelberg und Berlin Literatur, Geschichte und Philosophie studiert. Nach ersten publizistischen Arbeiten für den Rundfunk und verschiedene Printmedien übernahm er für zehn Jahre die Leitung des Nicolai Verlags. Trotha gilt als Spezialist für die Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. Derzeit arbeitet er selbständig als Publizist für diverse Medien und als Berater im Kulturbereich. Von ihm erschienen unter anderem "Der Englische Garten. Eine Reise durch seine Geschichte" (Verlag Klaus Wagenbach),"Das Lexikon der überschätzten Dinge", (Fischer Taschenbuch) und "Gartenkunst. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies" (Quadriga Verlag).

© Carsten Kempf
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