Algorithmen und Erinnerungen

Wenn das Handy alte Wunden aufreißt

15:40 Minuten
Auf einem iPhone werden automatisch generierte Foto-Rückblicke angezeigt, überschrieben mit dem Titel "Erinnerungen".
Ex-Freunde, Verstorbene, längst vergangene Zeiten: Algorithmen konfrontieren uns permanent mit der Vergangenheit. © Deutschlandradio / Katrin Doerksen
Moderation: Jenny Genzmer und Martin Böttcher · 07.01.2023
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Wenn das Smartphone automatisch Fotoalben erstellt, kann das unangenehme Erinnerungen wecken. Ein von Apps detailliert dokumentiertes Leben stößt uns ständig auf die Vergangenheit. Beeinflusst das, wie wir mit Vergangenem umgehen?
Die Digitalisierung bringt es mit sich: Wir können uns vor Erinnerungen im Netz, in Apps und Timelines kaum retten. Was in der Foto-App begann, ist heute überall.
Spotify schlüsselt auf, was wir dieses Jahr so gehört haben. Werbung erinnert uns auf Schritt und Tritt, was wir uns angesehen haben, und selbst Lieferdienst-Apps haben mittlerweile einen Jahresrückblick, der uns präsentiert, wie oft wir uns dagegen entschieden haben, etwas selbst zu kochen. Wie konnte es eigentlich so weit kommen?

Plattformen leben von Aufmerksamkeit

Lajla Fetic, die Co-Leiterin des Projekts „Ethik der Algorithmen“ von der Bertelsmann-Stiftung, erklärt es so: "Im Grunde genommen haben Google-Produktentwickler gemerkt, dass die Fotos ein tristes und einsames Leben fristen und selten angeschaut werden.“ Und weiter: „Google dachte sich in dem Kontext: Wir können die Aufmerksamkeit für unsere Produkte durch das Aufploppen dieser alten Erinnerungen erhöhen, die ansonsten verstauben würden.“
Es geht also, wie so vieles im Netz, um Aufmerksamkeit, die dann zu Geld gemacht wird. Sei es, weil man so an Google-Produkte erinnert wird und nicht zur Konkurrenz geht oder weil viele ihren Streaming-Jahresrückblick teilen und damit gratis Werbung für das Unternehmen machen.
"Für die meisten Anbieter solcher Rückblickfunktionen spielt es keine Rolle, ob Menschen damit verletzt werden", sagt Laila Fetic und spielt damit darauf an, dass einem die App etwa glückliche Bilder aus längst in die Brüche gegangenen Beziehungen oder Fotos gestorbener Haustiere präsentiert. "Was zählt, ist die Aufmerksamkeit, die dadurch generiert wird."

Ein standardisiertes Leben

Was fast alle dieser Erinnerungsalgorithmen gemeinsam haben: Sie sind nicht besonders schlau. Die Technologie wäre in der Lage, unsere Routinen zu kennen, und könnte auswerten, ob wir von Personen früher viele Fotos geschossen haben, aber seit ein paar Jahren keine mehr. Doch wird das nicht gemacht.
Das liege auch daran, dass bei der Planung nur vermeintliche Ideale generalisiert angewendet werden, erklärt Lajla Fetic. Dem algorithmischen Code liege an dieser Stelle eine „standardisierte Vorstellung von Leben“ zugrunde.
Das Problem ist: Der standardisierte Mensch existiert nicht, auch können Vorhersagen, wie welche Person reagiert, nicht getroffen werden. Während eine Person vielleicht von Traurigkeit übermannt wird, wenn sie mit einem verstorbenen Angehörigen konfrontiert wird, könnte jemand anderes sich vielleicht sogar darüber freuen.
Es sei aber wichtig, „dass Technologie dem Menschen und der Gesellschaft dient und wir uns nicht der Technologie unterordnen“, meint Lajla Fetic. Algorithmen müssten im Zweifel reguliert werden, damit die Menschen nicht mit digitaler Selbstverteidigung gegen Milliardenunternehmen allein gelassen werden.

Kommerzielle Ausrichtung kann belasten

Dass Menschen auf Plattformen im Rahmen eines kommerziellen Angebotes über Erinnerungsstücke stolpern, kann potenziell belastender sein, sagt der Kommunikationsforscher Christian Pentzold von der Universität Leipzig. „Es ist letztlich ein fremder Raum, in dem wir uns bewegen, in dem wir Profile haben und unsere Bilder zur Verfügung stellen. Letztlich haben wir zugestimmt, dass diese Bilder nicht mehr uns gehören, sondern dass wir sie weitergeben und sie wiederaufbereitet werden“, beschreibt er die Grundproblematik.

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Userinnen und User könnten über algorithmisch gesteuerte Prozesse auch auf Dinge stoßen, die sie selbst bisher nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit verbinden. Weil anders als ein analoges Foto oder andere zufällig wieder auftauchende Gegenstände das Angebot auf den Plattformen möglicherweise auch von anderen generiert wurde, erklärt Christian Pentzold: „Wir aber dann das erste Mal erinnernd damit konfrontiert werden.“

Ständig aufgezeichneter Alltag

Wir Menschen - das ist Teil unserer Kulturgeschichte - haben immer Gegenstände, Texte, Bilder, Materialien gebaut, die wir benutzen, um uns zu erinnern. Sie bringen uns immer wieder ein Stück der Vergangenheit nahe und helfen uns, Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Was wir aber jetzt beobachten, ist eine Totalaufzeichnung von Alltag. Alltag, der ständig wieder hervorgeholt werden kann, und zwar auch jenseits unseres Wollens.

Christian Pentzold

Das Leben vieler Menschen findet inzwischen sehr intensiv entlang und mit diesen Plattformen statt. Das machten es Userinnen und Usern sehr schwer, Dinge zu vergessen, die sie vielleicht vergessen wollen, so Pentzold. „Wir müssen uns vor Augen führen, dass Erinnern immer bedingt, dass wir auch in der Lage sind, Dinge vergessen zu können.“
(Hagen Terschüren, hum)
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