Ali Ghandour: Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime
C.H.Beck-Verlag, 218 Seiten.
Erotische Poesie und muslimische Lustratgeber
18:40 Minuten
Der muslimische Theologe Ali Ghandour hat in einem neuen Buch zusammengetragen, wie offen sich Muslime durch die Jahrhunderte mit Sexualität auseinandergesetzt haben. Im Gespräch erläutert er, warum dieses Erbe heute oft geleugnet wird.
Anne Françoise Weber: Nicht weniger als "eine Führung in die Welt von Sex und Erotik unter Muslimen", das verspricht der muslimische Theologe Ali Ghandour mit seinem neuen Buch "Liebe, Sex und Allah". Der Untertitel macht dann deutlich, dass es zunächst einmal in die Geschichte blickt, der lautet nämlich: "Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime." Herr Ghandour, Sie zitieren einen Gelehrten aus dem 18. Jahrhundert, der schreibt: "Der Geschlechtsverkehr weist auf den jenseitigen Genuss hin. Kostet man die Sexwonne, so wird man ermutigt, Gutes zu tun, sodass man dadurch die jenseitige Wonne erreicht, die gewaltiger ist." Diese Verbindung zwischen hiesigen Lüsten und dem Paradies, das klingt nach einem ziemlichen Kontrast gegenüber dem doch weitgehend leibfeindlichen Christentum. Es ist natürlich schwierig, von dem Islam und den Muslimen zu sprechen, aber kann man das, diese Einstellung, doch als so eine Art muslimische Grundhaltung zu Sexualität bezeichnen?
Ali Ghandour: Ja, auf jeden Fall. Also mir ist keine Strömung bekannt, die jetzt den Sex an sich verdammen würde oder als etwas Schlechteres bezeichnen würde. Der Sex ist schon allgemein positiv konnotiert. Die Frage ist nur, in welchem Rahmen das ausgelebt werden darf. Darüber gibt es verschiedene Positionen, aber der Sex an sich ist gut.
Die Frauen als Saatfeld
Weber: Jetzt wollen wir doch mal in den Koran schauen, da gibt es einen Vers, der ganz gern zitiert wird, um damit so eine grundsätzliche Unterordnung von Frauen zu illustrieren. Der klingt so: "Eure Frauen sind für euch ein Saatfeld, so kommt zu eurem Saatfeld, wann oder wie oder wo ihr wollt." Also dieses wann, wie, wo ist eben ein bisschen unklar in der Übersetzung, aber ganz egal, welches Wort man da jetzt nimmt, das klingt ja wirklich so, als ob die Frauen allzeit zum Sex bereit sein sollten, wenn den Männern danach ist. Ist das die richtige Interpretation?
Ghandour: Nein. Der Koran muss immer in seinem Kontext gelesen werden und diese Stelle hat auch so einen Hintergrund. Es gibt zwei Berichte zu dieser Stelle. Ein Bericht erzählt, dass die Gemeinde damals in Medina den Propheten gefragt hat, welche Positionen erlaubt sind, weil unter manchen jüdischen Gruppierungen in Medina die Vorstellung herrschte, dass nur eine bestimmte Position ginge.
Weber: Also Position, ganz bildlich gesprochen, Sexualposition, wie die beiden da im Bett liegen oder sonst wie.
Ghandour: Genau. In dem anderen Bericht wird erzählt, dass diese Stelle eigentlich eine ganz andere Frage beantworten will, und zwar ob Analverkehr erlaubt ist, und je nachdem, wie man den Text jetzt interpretiert, würde man zu anderen Ergebnissen kommen.
Der Begriff der Homosexualität war unbekannt
Weber: Sie schreiben, "der Islam verbietet die Homosexualität", das sei auch eine falsche Aussage. Das liegt auch wieder daran, dass es da so eine Vielstimmigkeit gibt und man das gar nicht so allgemein sagen kann?
Ghandour: Ja, weil die Muslime vor dem 19. Jahrhundert den Begriff Homosexualität gar nicht kannten. Diese Kategorie existierte in ihrer Welt gar nicht. Wenn sie über das Thema Mann-Mann- oder Frau-Frau-Beziehungen gesprochen haben, haben sie über Geschlechtsverkehr und besonders über Analverkehr gesprochen, aber alles andere war gar kein Problem. Also, einen Mann zu lieben, die Schönheit des Mannes zu loben oder zu lieben, sogar auch eine Art Beziehung mit einem Mann zu führen, das war gar kein Thema. Was die Rechtsgelehrten beschäftigt hat, das war einfach die Frage: Darf ein Mann einen anderen Mann penetrieren? Das ist nicht Homosexualität, das ist vielleicht ein Teilbereich von dem, was wir heute als Homosexualität verstehen, aber das ist nicht die Homosexualität an sich.
Weber: Aber genau für diese Penetration eines Mannes durch einen Mann gab es dann schon auch festgelegte Körperstrafen.
Ghandour: Genau.
Weber: Wurden die auch vollzogen oder weiß man das nicht so genau?
Ghandour: Nein, man weiß schon, wie das damals so abging. Die Strafen, die man jetzt vorgesehen hat, die waren rein theoretischer Natur, weil wir aus anderen Quellen wissen, dass das nicht nur praktiziert wurde in der Gesellschaft, sondern mehr oder weniger toleriert wurde. Da hat man so eine Diskrepanz, die man kaum verstehen kann aus der heutigen Perspektive, dass auf der einen Seite etwas auf dem Papier verboten wurde, aber in der Praxis dieses Verbot gar keine Rolle mehr gespielt hat.
Rechtsgelehrte hatten keine politische Macht
Weber: Und woran lag das – daran, dass diese religiösen Gelehrten jetzt keine Staatsmacht waren und keine Revolutionswächter wie heute im Iran, sondern da irgendwelche Positionen vertreten haben, zu denen es im Zweifelsfall auch eine Gegenmeinung gab? Oder waren die weit weg? Woran lag das?
Ghandour: Mindestens drei Gründe: Grund Nummer eins haben Sie gerade erwähnt, dass die Rechtsgelehrten keine politische Macht hatten. Grund Nummer zwei, innerhalb der muslimischen Normenlehre gibt es verschiedene Bewertungen des Aktes. Wir haben die Position, die besagt, das muss bestraft werden, aber wir haben auch Positionen, die besagen, nein, es gibt keine Strafe für so einen Akt. Beide Positionen existieren. Der dritte Punkt: Sowas kann man auch nicht beweisen. Wenn zwei Männer miteinander schlafen, dann tun sie das normalerweise nicht auf der Straße, sondern in einem privaten Raum, und die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, um so einen Akt vor dem Richter zu beweisen, sind unerfüllbar. Deswegen bleibt es einfach auf der theoretischen Ebene.
Weber: Und so etwas wie die Argumentation, Homosexualität oder homosexuelle Praktiken seien unnatürlich, anormal und so – das hört man ja heute ganz oft, nicht nur aus islamistischen Ecken, sondern auch aus evangelikalen oder sonst wo – das gab es damals nicht?
Ghandour: Die Kategorie "anormal" existierte in dieser Form nicht. Also anormal oder nicht natürlich wurde im Bereich der Sexualität fast gar nicht benutzt.
Weber: Das ist erstaunlich für eine Gesellschaft, von der man denken könnte, dass die doch stärker normiert war als postmoderne Gesellschaften heute, oder?
Ghandour: Ja, auf jeden Fall.
Weber: Und wie erklärt man das?
Ghandour: Da muss man auf die Moderne blicken, also was in den letzten 200 Jahren passiert ist, um diesen Wandel zu verstehen, dass bestimmte Kategorien nicht aus dieser Tradition stammen, sondern von ganz anderen Traditionen kommen.
Lustratgeber auch für Frauen
Weber: Auf die Moderne würde ich gerne später noch mal eingehen. Jetzt würde ich gerne noch ein bisschen bei dieser Literatur aus vormoderner Zeit bleiben. Da gibt es homoerotische Dichtung und es wird insgesamt ziemlich explizit über die Freuden der Sexualität geschrieben. Es gibt auch eine ausführliche Ratgeberliteratur. Geht es in der darum, den maximalen Lustgewinn für Männer zu erreichen?
Ghandour: Für Männer und für Frauen, würde ich auch sagen. Also, vielleicht vor allem für die Männer, aber die Frauen waren nicht abwesend in diesen Werken oder in den Gedichten. Die sind schon da. Vielleicht nicht so stark anwesend wie das Männliche, aber auch sie hatten einen festen Platz in dieser Literatur.
Weber: Und Sie schreiben auch, dass es zum Beispiel um das Küssen oder um das Vorspiel vor dem eigentlichen Sexualakt ging, was Themen waren, die eigentlich in der europäischen Literatur dieser Zeit gar nicht vorkamen.
Ghandour: Genau, wir reden jetzt über die Zeit um das zehnte, elfte, zwölfte Jahrhundert, und das war auch die Zeit, in welcher die meisten medizinischen Werke in die lateinische Sprache oder in die altspanische Sprache übersetzt wurden, und durch diese Werke und andere Werke, sagen zumindest manche Forscher, sollen die Europäer Begriffe wie Vorspiel oder Klitoris entdeckt haben.
Weibliche Genitalverstümmelung war eine regionale Praxis
Weber: Ein Thema habe ich komplett vermisst in Ihrem Buch, und das ist die weibliche Genitalverstümmelung. Nun weiß ich, das ist keine genuin islamische Praxis, manche führen das auf die Pharaonen zurück, es wird auch nicht nur bei Musliminnen praktiziert. Trotzdem ist das ja heutzutage ein Thema, auch in der muslimischen Welt, und wird zum Teil auch von Islamisten propagiert. Gibt es da überhaupt keine Spuren in vormoderner Zeit?
Ghandour: Die Beschneidung allgemein habe ich gar nicht behandelt in meinem Buch, also weder die weibliche noch die männliche.
Weber: Wobei die männliche ja wirklich eine andere Kategorie ist.
Ghandour: Ja, auf jeden Fall. Die Spuren existieren, auf jeden Fall. Die existieren in der normativen Literatur. Allerdings gibt es hier auch einen Unterschied von Region zu Region. So eine Praxis ist eher in Ostafrika, Sudan, Ägypten bekannt, ist aber unbekannt in Nordafrika oder im heutigen Pakistan, Indonesien, Zentralasien. Es ist eher so eine regionale Praxis. Deswegen, glaube ich, habe ich sie nicht erwähnt als etwas, was eine große Rolle damals gespielt hätte.
Frauen schrieben selbstbewusst über ihre Vulva
Weber: Sie haben schon vorhin, als es um die Ratgeber ging, gesagt, es war wahrscheinlich doch vor allem auf die Männer ausgerichtet und auf deren Lustgewinn. Auch diese Normen wurden ja von Männern gemacht und propagiert, die Literatur wurde stark von den Männern dominiert. Trotzdem haben Sie auch ein paar weibliche Stimmen gefunden, zumindest in der Literatur. Was sagen die aus über Sexualität? Kann man da so einen allgemeinen weiblichen Blick festmachen?
Ghandour: Wenn man jetzt zum Beispiel die Dichtung nimmt, also die Gedichte, die uns erreicht haben von weiblichen Autorinnen, da spielt manchmal ein Selbstbewusstsein hinein, was heute irgendwie verlorengegangen ist. Wie zum Beispiel bestimmte Frauen über ihre Vulva geschrieben haben oder wie sie über den Geschlechtsakt geschrieben haben, diese Offenheit, diese Direktheit auch, das eigene Verlangen offenkundig zu äußern, sowas vermisse ich zum Beispiel in der heutigen Poesiedichtung. Wenn man jetzt nicht nur die Dichtung in Betracht zieht, sondern auch die Anekdotenliteratur, da wird man merken, dass auch Frau-Frau-Beziehungen, lesbische Beziehungen existierten und auch nicht selten existierten. Sie waren schon ziemlich verbreitet, zumindest in den großen Städten, im urbanen Milieu. Solche Dinge kann man aus diesen Quellen ableiten.
Die Industrialisierung zerstörte die Stadtkultur
Weber: Vieles von dem, was Sie beschreiben, ist ja in einer vormodernen Stadtkultur verortet. Nun sagen Sie, im Grunde ist diese Stadtkultur auch verlorengegangen, paradoxerweise durch eine Industrialisierung und durch die Tatsache, dass immer mehr Menschen in die Städte gezogen sind.
Ghandour: Ja. Schauen wir vielleicht einen Schritt davor, wie es dazu kam, dass überhaupt diese Industrialisierung die muslimisch geprägte Welt erreicht hat. Da findet man, dass Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang vom 19. Jahrhundert die erste imperialistische Welle auf diese Region zukam, und mit dem Imperialismus kamen auch Ideen wie Modernisierung und Industrialisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft allgemein.
Mit der Industrialisierung kam auch eine Welle von Menschen, die außerhalb der damaligen urbanen Milieus lebten und die Leute auf dem Land waren eher konservativer in ihrem Denken. Die hatten auch keinen Zugang zu dieser ganzen Literatur, zu diesem Lebensstil der Stadt. Das hat auch radikale Veränderungen in der Stadt und in der Gesellschaft allgemein verursacht. Vor der Moderne war der Unterschied zwischen Stadt und Land sehr, sehr groß. Das hat man, wie gesagt, nach der Industrialisierung bemerkt, dass die Stadt, wie man sie vorher kannte, nicht mehr existierte und auch viele Phänomene in der Stadt auch nicht mehr existierten.
Der moderne Staat kontrolliert die Bevölkerung
Weber: Und was mit der Kolonialisierung auch kam, das war so eine bestimmte… vielleicht viktorianische Prüderie. Also das, was vorher viel offener angegangen wurde, die Sexualität und das Ausleben verschiedener Sexualpraktiken, das war jetzt plötzlich nicht mehr vorgesehen?
Ghandour: Ja, also, das ist auch ein Grund für diesen Untergang des Erotischen oder des Sexuellen in der Region. Viktorianische Prüderie ist ein Begriff, aber auch die Vorstellung, dass der Staat die Bevölkerung oder die Sexualität der Bevölkerung kontrollieren soll. Das ist auch eine moderne Vorstellung: Kontrolle durch Gesetze, Kontrolle durch die Erziehung, Kontrolle durch Gefängnisse, durch Krankenhäuser und Kontrolle über die Diskurse in der Wissenschaft.
All das, was wir aus dem 19. Jahrhundert kennen, wurde auch in die muslimisch geprägte Welt eingeführt, und das hat auch dazu geführt, dass die Denkweise der Menschen sich verändert hat. Ein Grund war: Sie standen nicht in der Position des Siegers, sondern des Verlierers oder des Unterdrückten, und man blickt immer so auf den Sieger hoch. Diese Übernahme geschah teilweise gewaltsam, aber auch teilweise unbemerkt.
Islamisten haben Kontrollidee übernommen
Weber: In den 70er Jahren wurden die Islamisten immer wichtiger, die schon im 19. Jahrhundert sozusagen ihre Vorväter hatten: Die haben einen ganz besonderen Bezug zu diesem Umgang mit Sexualität. Die wünschen sich nämlich eine Normierung. Wie kommt das? Also einerseits sind das Leute, die sich auf die islamische Urzeit beziehen, auf die Gefährten des Propheten und so weiter, aber die haben doch ein Verständnis von Normierung von Sexualität, was man, zumindest wenn man Ihrer Forschung glaubt, bei den Gefährten des Propheten und ihm selbst nicht unbedingt so findet.
Ghandour: Das islamistische Verständnis der Geschichte ist ahistorisch. Sie haben ein Bild von der Geschichte, das ziemlich schwarzweiß und auch ziemlich eindeutig ist. Und die muslimische Geschichte war weder schwarzweiß noch eindeutig. Die war ziemlich ambig und hat verschiedene Phasen, verschiedene Phänomene gehabt. Das ist das eine. Das zweite: Die Islamisten haben diese Vorstellung von Kontrolle, was man im modernen Staat findet, übernommen und mit ihrem Verständnis vom Islam kombiniert, und dadurch ist eine bestimmte Sexualmoral entstanden.
Zum anderen gibt es noch einen Punkt, und zwar: die Islamisten benutzen die Sexualität als Maßstab für Zivilisation. Das ist auch so eine Idee, die wir aus dem europäischen 19. Jahrhundert kennen, dass Sexualität und Zivilisation miteinander verknüpft sind, und sie benutzen die Sexualität, um den sogenannten Westen zum Beispiel zu bewerten. Schaut mal, sie sind unzivilisiert, weil die Sexualität, die dort herrscht, eine problematische Sexualität ist. Dadurch wollen sie auch sich selbst legitimieren. Damit es nicht so passiert, wie jetzt in den USA oder in Westeuropa, müsst ihr uns folgen, müsst ihr uns an die Macht bringen und so weiter. Sexualität wird als ein Machtinstrument benutzt von diesen Strömungen.
Umkehrung des orientalistischen Blicks
Weber: Und im Grunde ist das eine Umkehrung des orientalistischen Blicks des 19. Jahrhunderts, wo die Imperialisten kamen und gesagt haben: Diese dekadenten muslimischen Bevölkerungen, denen müssen wir mal zeigen, wie Recht und Ordnung wirklich funktioniert, und das ist unsere Legitimation, hier als Kolonialherren aufzutreten.
Ghandour: Genau, also fast eins zu eins übernommen. Das ist die gleiche Argumentation. Nur sind diesmal die Dekadenten eigentlich die anderen und nicht die Muslime. Also wenn man Sexualwissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert, Anfang vom 20. Jahrhundert liest, dann waren natürlich die Muslime die Libertinen, die zu Offenen, die Wilden manchmal, und jetzt ist es einfach umgekehrt.
Auch der Sufismus ist prüde geworden
Weber: Im Sufismus ist es ja ähnlich wie in der christlichen Mystik so, dass auch durchaus fleischliche Liebe hin zur Gottesliebe führt und dass erotische Bilder wirklich auch für die Vereinigung mit Gott benutzt werden. Hat sich das gehalten, trotz dieses sozusagen prüden Backlash im muslimischen Denken, wenn ich das überhaupt so allgemein formulieren darf?
Ghandour: Also auch der Sufismus hat unter dieser gewaltsamen Veränderung gelitten. Sufi-Literatur im 20. Jahrhundert oder in unserem Jahrhundert ist nicht die gleiche wie im 15. Jahrhundert – die ist auch prüde geworden. Die Bilder von der Frau als das Göttliche, oder die Beziehung mit einer Frau oder die Liebe zu einer Frau als eine Metapher für die Liebe zu Gott und ähnliche Sprachbilder, die findet man heute kaum in der Sufi-Literatur.
Missbrauch von Religion verhindert Veränderung
Weber: Und welche Wege gibt es denn nun heute, diese Vieldeutigkeit wiederzufinden oder auch die Toleranz für die Vielfalt wiederzufinden, sowohl unter Muslimen als auch unter Nichtmuslimen? Es reicht ja nicht aus, irgendwie ein goldenes Zeitalter zu besingen und zu sagen, ja, früher war viel möglich, heute haben wir uns da ein bisschen verengt.
Ghandour: Ja, ich sehe zwei Probleme, die so eine Veränderung verhindern: Zum einen ist es die Verknüpfung von Religion und politischer Macht, weil da, wo die politische Macht ist, ist auch Missbrauch von Religion in der Region, und das findet man leider fast in jedem muslimisch geprägten Land. Solange die Religion und das Denken über den Glauben sich nicht von Staatskontrolle und von politischer Ideologie und politischem Missbrauch emanzipiert, wird es hier keine Veränderung zum Besseren geben.
Zum anderen: Die Schriften von damals, diese Offenheit, die wir jetzt in den alten Schriften finden, reicht nicht für heute. Warum? Weil wir in einer völlig anderen Welt leben. Unsere Lebensrealität ist nicht die Lebensrealität von einem Gelehrten in Indien aus dem 16. Jahrhundert. Das heißt, das muslimische Denken muss sich auch mit Fragen beschäftigen, die die Menschen heute beschäftigen und auch die Erkenntnisse unserer Zeit in das theologische Denken einfließen lassen.
Der Blick auf früher reicht nicht - aber ist Inspiration
Weber: Und trotzdem kann der Blick zurück auf die Vielfalt von Interpretationen und möglichen Praktiken zu einer Offenheit führen, die momentan nicht vorhanden ist.
Ghandour: Ja, das kann man als Grundlage nehmen zum Weiterdenken, aber nicht nur das Alte besingen und die Zeit, in welcher wir heute leben, außer Acht lassen.
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