Ali Smith: "Sommer"
aus dem Englischen Silvia Morawetz
Luchterhand Verlag, 2021
315 Seiten, 22 Euro
Zeitreise in Großbritanniens dunkle Stunden
05:28 Minuten
Mit "Sommer" beendet die schottische Schriftstellerin Ali Smith ihre Tetralogie der Jahreszeiten. Erneut ist der Roman politisch aufgeladen. Er folgt einer Kleinfamilie auf ihrer Reise durch England. Und es geht um eine dunkle Vergangenheit.
Sprache ist vieldimensional, einzelne Wörter können je nach Kontext sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Ein eínfaches ‚und‘, so Ali Smith zum Beginn ihres Romans ‚Sommer‘, kann wie eine Frage klingen, wie eine Bestätigung oder wie das nonchalante Achselzucken von Regierungen, wenn sie beim Lügen erwischt werden. ‚Na und‘ tönt es dann. Die Betonung macht die Musik.
So beginnt auch der vierte Band von Smiths Jahreszeiten-Tetralogie wieder mit einer politischen Attacke, bevor er zur eigentlichen Geschichte kommt.
Zerrissenheit der englischen Gesellschaft
Ali Smiths Protagonisten sind diesmal die ehemalige Schauspielerin Grace, die gerade von ihrem Ehemann verlassen wurde, deren sechzehnjährige Tochter Sacha sowie ihr dreizehnjähriger Sohn Robert. Der hochbegabte, aber in der Schule gemobbte Junge ist Befürworter des Brexits, liebt rechtsradikale Provokationen und schräge Scherze. So drückt er seiner Schwester eine mit Sekundenkleber bestrichene Sanduhr in die Hand, die sich nur sehr schmerzhaft wieder entfernt lässt. Weil sie ihn liebt, vergibt sie ihm.
Sacha ist links eingestellt, Klima-Aktivistin und schreibt Briefe an einen inhaftierten Abschiebehäftling. Der Vater lebt im Haus nebenan mit einer jüngeren Frau, die das Sprechen aufgegeben hat. In dieser Familie spiegelt sich also die Zerrissenheit der englischen Gesellschaft wieder.
In Smiths vierten Roman begegnen wir zudem mehreren Figuren, die wir bereits aus den vorangegangenen Romanen der Tetralogie kennen. Doch man muss die nicht kennen, um den Ereignissen folgen zu können.
Licht und Dunkel sind das Leitmotiv
Die Familie begibt sich auf eine Reise an einen Ort, an dem Albert Einstein eine Weile lebte. Zugleich ist es eine Zeitreise in Großbritanniens dunkle Stunden. Unterwegs trifft die Familie auf den jüdischen Emigranten Daniel Gluck. Mit ihm kehrt Ali Smith in den Zweiten Weltkrieg zurück, in dem der Junge zusammen mit seinem Vater als feindlicher Ausländer interniert war.
Erzählt wird auch die Geschichte seiner Schwester Hannah, die sich damals in Frankreich als Widerstandskämpferin durchschlug sowie die einer Familienmutter, die in den Siebzigerjahren mit einer Schauspieltruppe durchs Land zog und Shakespeare spielte. Hier findet sich auch das Leitmotiv des Romans: Der Sommer "ist Licht und Dunkel ... Weil es fröhliche Geschichten nicht gibt ohne das Dunkle".
Staunenswerte Reise durch Großbritanniens jüngste Geschichte
Es gibt keine geschlossene Romanstruktur. Ali Smith verknüpft die einzelnen Geschichten nur lose miteinander. In sich sind sie geschlossen, stehen für sich. Jede einzelne ist ein kleines Drama. Das Buch ist wie ein Zeit-Kaleidoskop. Mit jeder Drehung zeigt sich eine andere Facette der britischen Geschichte. Da Ali Smith wörtliche Rede liebt und alle Ereignisse im Präsens beschreibt, hat man den Eindruck, direkt dabei zu sein. Das macht den Roman lebendig.
Die nunmehr abgeschlossen vorliegende Tetralogie erinnert an Lion Feuchtwangers Wartesaal-Trilogie über die Zwanzigerjahre. Ali Smith hat die gesellschaftliche Stimmung in Großbritannien seit dem Brexit meisterhaft in den vier Jahreszeiten-Romanen eingefangen: ein unbestechliches, ungeschminktes, illusionsloses Zeitzeugnis.
Es ist zudem ein Lehrstück über Anpassung und Widerstand und feiert bedingungslose Liebe und politisches Engagement. Ein Lesegenuss, eine staunenswerte Reise durch Großbritanniens jüngste Geschichte.