Ali Smith: "Winter"

Reise durch die Seelenlandschaft der Briten

05:43 Minuten
Cover des Buchs "Winter" von Ali Smith.
Eine moderne Spukgeschichte, die Verdrängtes und Vergessenes zum Leben erweckt: "Winter" von Ali Smith. © Luchterhand / Deutschlandradio
Von Johannes Kaiser |
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Vier Menschen müssen sich in "Winter" von Ali Smith ihrer Vergangenheit stellen. Bittere Erinnerungen und Geheimnisse kommen dabei ans Licht. Es entspinnt sich eine moderne Spukgeschichte, die auch Abrechnung mit der englischen Gesellschaft ist.
Winterzeit ist Geisterzeit, und in Englands Häusern leben bekanntlich viele Geister. Schriftsteller haben sie gern heraufbeschworen. So nun auch die Schottin Ali Smith. Auch bei ihr herrscht gleich zu Beginn des Romans Geisterstunde – ein körperloser Kinderkopf verfolgt ihre Protagonistin, die zurückgezogen und einsam in einem Haus in Cornwell lebende Sophia. Aber sie fürchtet ihn nicht, denn er ist freundlich, fröhlich, anmutig.

Vision oder beginnende Demenz

Ali Smith lässt für uns offen, ob sich die im Rentenalter befindliche Sophia das nur einbildet. Ist es eine Vision, beginnende Demenz, Augendegeneration?
Es ist Weihnachtszeit. Sophia erwartet ihren Sohn Arthur und dessen Freundin Charlotte. Völlig überraschend erscheint auch ihre Schwester Iris, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Schon frühzeitig trennten sich ihre Lebenswege, wie sich im Laufe des Romans herausstellt.
Während die ältere Iris gegen die Gesellschaft rebellierte, wurde Sophia Unternehmerin und baute erfolgreich ein Modeladenkette auf. Für ihren Sohn Arthur hatte sie allerdings wenig Zeit.

An Weihnachten wird um die Wahrheit gestritten

Arthur ist ein gut verdienender Web-Rechercheur und leidenschaftlicher Blogger einer Naturkolumne. Er wurde gerade von seiner Freundin Charlotte verlassen. Spontan heuert er die junge Kanadierin Lux an, ihn an deren Stelle zu begleiten.
Eigentlich ist Weihnachten eine Zeit der Besinnung, doch bei Ali Smith werden die Geister der Vergangenheit wieder lebendig, kommen Geheimnisse ans Tageslicht, wird um die Wahrheit gestritten. Dabei wird auch an wichtige politische Ereignisse der letzten 50 Jahre erinnert. Da Iris diese Ereignisse wie Geschichten aus ferner Vergangenheit erzählt, braucht man oft eine Weile, um zu begreifen, worauf Smith anspielt.

Familiendrama und Abrechnung mit der Gesellschaft

Eine wichtige Rolle in dem Roman spielt Lux. Sie erweist sich als empathische Fremde, die mit ihren nur vermeintlich naiven Fragen die Anderen zum Nachdenken zwingt. Ihr gegenüber offenbaren sie Geheimnisse.
Das Aufeinandertreffen der vier unterschiedlichen Charaktere enthüllt nicht nur ein Familiendrama. Ali Smith nutzt es auch zu einer Abrechnung mit der britischen Gesellschaft. Dabei schiebt sie in die Beschreibung der Gegenwart zahlreiche Rückblicke, verschränkt verschiedene Zeitebenen, springt in die Zukunft.
Ihr gelingen immer wieder poetische Bilder für die innere Zerrissenheit ihrer Protagonisten und zugleich für die der Gesellschaft. So wird der Roman zur faszinierenden Reise durch die derzeitige Seelenlandschaft der Briten, die Befindlichkeit einer Nation. Eine moderne Spukgeschichte, die viele "Geister" der jüngsten Vergangenheit, Verdrängtes und Vergessenes zum Leben erweckt.

Ali Smith: "Winter"
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Verlag, München 2020
315 Seiten, 22 Euro

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