Alice Goffman: "On The Run"

Lehrstück über das rassistische Amerika

Eine Demonstrantin gegen die Gewalt in Ferguson, aufgenommen in New York
Polizeigewalt gegen Schwarze ist in den USA vielerorts keine Ausnahme, sondern methodisch, schreibt Alice Goffman. © picture alliance / dpa / Justin Lane
Von Gabriele von Arnim |
Drogen, Polizeigewalt und eine verfehlte Sozialpolitik: Die Anthropologiestudentin Alice Goffman ist für ihre Studie "On The Run" ins Schwarzen-Ghetto von Philadelphia gezogen. Ihr Text zeichnet ein erschreckendes Bild der USA im 21. Jahrhundert.
Aufgewachsen als Tochter eines berühmten Soziologen und einer Linguistin, zieht die 20-jährige Anthropologiestudentin Alice Goffman von einem wohlhabenden weißen Viertel Philadelphias in den schwarzen Slum, in dem Drogen, Waffen, Armut, Bandenkriege, Polizeigewalt und Gefängnisstrafen die vorrangigen Lebensthemen sind.
Sechs Jahre lang wohnt sie dort, mitten im gefährlichen Alltag des Viertels, das sie in ihrem Buch 6th Street nennt. Man staunt ob der Courage und der Cleverness der weißen jungen Frau, die sich in Cliquen schwarzer, gewaltbereiter junger Männer hineinbegibt, mit ihnen lebt und offenbar wirklich respektiert wird. Alsbald wird sie zur anerkannten Chronistin der Jugendlichen und schreibt ihre Dissertation über ihre Erfahrungen.
Umfassende Einblicke in Familienstrukturen und gesellschaftliche Normen
Die Barrieren waren zunächst groß. Sie hat die Sprache nicht verstanden, die hier gesprochen wurde, kannte den Benimmkodex nicht, musste sich möglichst unauffällig und geschlechtsneutral verhalten und immer mal wieder die klassische Rolle der teilnehmenden Beobachterin zugunsten des Kumpelverhaltens verlassen. Oft haben sich die von der Polizei gesuchten Jungs bei ihr in der Wohnung versteckt. Dafür hat sie einen umfassenden Einblick bekommen in die Familienstrukturen, Liebesverhältnisse, gesellschaftlichen Normen und moralischen Gebote dieser Gesellschaft.
Fast alle jungen Männer waren schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hatten in dem einen oder anderen Gefängnis gesessen, kannten Gerichte besser als die Schule. Sie haben gedealt und geraubt, waren in Schießereien verwickelt, sind von ihren drogensüchtigen Müttern beklaut, von ihren Freundinnen mal beschützt, mal der Polizei ausgeliefert worden.
Kaum ein Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt
Und selbst wenn sie versuchten, aus dem Kreislauf von Gewalt und Verhaftung auszubrechen, hatten sie - das ist Goffmans zentrale These - kaum eine Chance. Denn der amerikanische Krieg gegen das Verbrechen richte sich in erster Linie gegen schwarze junge Männer. Die Polizei, so Goffman, warte nur darauf, dass sie Ausgangssperren übertreten, betrunken Auto fahren oder Gras rauchen. Was im weißen College, so die Autorin, als Lappalie abgetan wird, wird hier zum Strick, an dem die Schwarzen abgeführt werden. Das sei keine Ausnahme, sondern Methode und die Gewalt der Polizisten alltägliches Verhalten.
Und so sei die Polizei nicht die Institution, die Schutz gewährt, sondern die Kraft, die die Gemeinschaft zerstört. Die jungen Männer wagen nicht, mit eigenen Wunden ins Krankenhaus zu gehen, weil auch dort die Polizei auf sie wartet, melden keine Verbrechen gegen ihre Familien. Sie leben zwischen Furcht und Misstrauen, sind ständig auf der Flucht. Es blüht der Schwarzmarkt der gefälschten Papiere oder des gekauften sauberen Urins für die obligaten Tests.
Das alles, so Goffman, sei das Ergebnis einer gänzlich verfehlten Sozialpolitik. Die Polizei solle richten, was die Politiker versäumten und trage in der Folge mehr zur Kriminalisierung der Ghettobewohner bei als zu deren Resozialisierung. Wir lesen eine Feldstudie, eher Reportage als Analyse, nicht immer stringent, und doch ist Goffman ein erschreckendes Lehrstück über das immer noch rassistische Amerika gelungen.

Alice Goffman: On The Run
Aus dem Englischen von Noemi von Alemann, Gabriele Gockel und Thomas Wollermann
Antje Kunstmann Verlag München 2015
368 Seiten, 22,95 Euro

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