Alice Munro wird 85

Die Zauberin der kurzen Geschichte

Die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro am 10. Oktober 2013 lächelnd.
Die kanadische Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro © Derek Shapman / Handout / dpa
Von Georg Schwarte |
Spätestens seit dem Literaturnobelpreis 2013 ist Alice Munro kein Geheimtipp mehr. Die Kurzgeschichten der kanadischen Autorin werden weltweit verehrt. Jetzt wird Munro 85 Jahre alt - und Fans, Kritiker und Kollegen hoffen auf einen Rücktritt vom Ruhestand.
Die Kompliziertheit des Einfachen. Die betörenden Augenblicke inmitten von Gewöhnlichkeit. Die Magischen Momente des Alltags. Da ist sie zu Hause. Alice Munro.
Jedes Leben sei interessant. Jeder Lebensumstand. Es klingt wie dir zarte Rechtfertigung einer Frau aus der kanadischen Provinz, die sich längst nicht mehr rechtfertigen muss. "Unseren Tschechow" nennen die Kanadier zärtlich die Autorin, die 2013 den Literaturnobelpreis erhielt, auch und weil sie das lange Leben in kurzen Geschichten verdichten konnte. Und dabei zumeist alle betörte.

Munro schrieb verstörende Geschichten

Das Leben. Bei ihr bekam es mittels einer unglaublichen Gabe der enthüllenden Beobachtung, Tiefe. Ob im Turkey-Schlachthaus, beim örtlichen Kleiderladen oder im Pflegeheim für demenzkranke Patienten. Alice Munro schrieb verstörende Geschichten – die zumeist im Alltag begannen und nicht selten in der Katstrophe mündeten. Dabei begann ihr Streben nach Schreiben mit dem Wunsch nach einem Happy End. Einst vor vielen Jahren. Als ihre Mutter ihr Hans Christian Andersens "Kleine Meerjungfrau" vorgelesen hatte:
"Sobald die Geschichte zu Ende war, lief ich um unser Haus, Runde um Runde, und erfand ein gutes Ende, weil die Meerjungfrau das verdiente."

"Die Hausfrau, die schreiben kann"

So also begann, was 2013 mit dem Literaturnobelpreis ein vorläufiges Ende fand. Ein Jahr zuvor, ihr vorerst letzter Band von Kurzgeschichten. "Dear Life". Liebes Leben. Als sie 1969 für ihren ersten Band Kurzgeschichten gleich Kanadas höchsten Literaturpreis gewann, nannten sie Alice Munro "die Hausfrau, die schreiben kann". Sie lächelte darüber – milde, denn sagt sie, "es stimmte ja."
"Ich war eine normale Hausfrau", sagte sie. Schreiben gelernt habe sie in der Zeit dazwischen. Schon als Kind in der kanadischen Provinz sog sie auf, was ihr Örtchen an Geschichten bot. Sie schrieb. Heimlich über die Welt, weil sie bis heute glaubt, dass Geschichten die Welt ausmachen. Inspiration? Die Geschichte war Inspiration genug.

Momente der gewöhnlichen Welt

Alice Munro. Andere entwarfen das große literarische Weltbild. Sie entwarf Momente aus der kleinen Ödnis der gewöhnlichen Welt. Kinder, Ferienlager. Ehe. Provinz. Eine Ödnis aber, die bei ihr urplötzlich spiegelt, wozu andere Autoren eben das große literarische Weltbild brauchten. Ihre Kurzgeschichten lassen Romane anderer gelegentlich wie Fingerübungen für die Kunstform Kurzgeschichte erscheinen. Dass eine Kurzgeschichte bei ihr manchmal ein Jahr des Schreibens benötigte, hat wohl damit zu tun, dass sie selten zufrieden war, viele Entwürfe verwarf.
Jetzt ist Alice Munro 85 geworden. Und hat wieder und wieder betont, sie werde kein weiteres Buch mehr schreiben. Hoffnung aber gibt es. Denn einst im Interview erklärte sie trocken, sie sei wohl der Mick Jagger der Literatur. Sie schreibe einfach immer weiter.
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