Alice Schwarzer wird 80

Kein Vorbild für junge Migrantinnen

Eine Frau blickt freundlich in die Kamera: die Feministin und Publizistin Alice Schwarzer.
Eine "taffe Frau mit sehr vielen Kanten": So beschreibt Jasamin Ulfat-Seddiqzai die Feministin und Publizistin Alice Schwarzer. © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Ein Kommentar von Jasamin Ulfat-Seddiqzai |
Wäre Alice Schwarzer nicht stur, hätte sie nicht so erfolgreich für Feminismus kämpfen können, vermutet die Literaturwissenschaftlerin Jasamin Ulfat-Seddiqzai. Doch der Lebenswirklichkeit migrantischer Frauen werde Schwarzers Denken nicht gerecht.
In der Kultur meines Vaters, über die Alice Schwarzer schon so manchen unfreundlichen Text geschrieben hat, ist es verpönt, ältere Menschen zu kritisieren. Selbst wenn man an ihrem Verhalten viel auszusetzen hat, bleibt man respektvoll. Mit 80 Jahren hat sich Alice Schwarzer diesen Ältestenstatus wohl verdient, aber ein Text über sie funktioniert ohne Kritik nur schwer. 
Schwarzers Lebenswerk muss man niemandem vorstellen, sie selbst hat zwei Bücher darüber geschrieben. Zur Grande Dame des deutschen Feminismus hat jeder eine deutliche Meinung. Einige lieben sie, andere nicht so sehr – für Zwischentöne gibt es wenig Platz, aber das stört Frau Schwarzer wahrscheinlich nicht.

Eine sture Kämpferin für Feminismus

Das Polarisieren liegt ihr im Blut, könnte man meinen. Vielleicht ist das aber unfair. Denn was blieb einer Feministin in einer Zeit, in der Frauen wie Kinder behandelt wurden, anderes übrig, als zu wüten und zu provozieren? Die sogenannten Klima-Kleber, über deren Inhaftierung ohne Prozess mächtige Politiker heute fantasieren, sind nichts gegen eine junge Frau im Deutschland der Siebzigerjahre, die öffentlich für das Recht auf Abtreibung eintrat. Der Hass, der Frau Schwarzer entgegenschwappte, muss unerträglich gewesen sein. Vielleicht hätte das niemand anderes ausgehalten als diese sture, unversöhnliche Frau. 
Erst einmal im Establishment angekommen, wurde diese Sturheit und Unversöhnlichkeit jedoch zum Problem: Wer die Faust gegen „die da oben“ reckt, ist ein Underdog. Wer aber die Faust reckt und nicht sieht, dass er langsam selbst zu „denen da oben“ gehört, wirkt schnell aggressiv. Und wird vielleicht blind dafür, wie die Welt sich verändert hat.

Jenseits migrantischer Lebenswirklichkeiten

So wirken ihre Beschreibungen gerade migrantischer Communitys auf viele Migranten wie Fantasy-Romane: Von einigen unserer angeblichen Traditionen haben wir selbst noch nie gehört. Kürzlich schrieb sie in einem Artikel, dass es in Afghanistan üblich sei, Jungen mit zwölf Jahren ihren Müttern zu entziehen. Das sei die Ursache für afghanische Frauenfeindlichkeit. Klingt erstmal nachvollziehbar – nur: Diesen Brauch gibt es gar nicht. 
Die Deutungshoheit, die sie in vielen Fragen beansprucht, wird migrantischer Lebenswirklichkeit oft nicht gerecht. Junge, migrantische Frauen wissen selbst viel besser, welche Fesseln es für sie gibt und wie sie sich erfolgreich daraus befreien. Dass zum Beispiel das Kopftuch eine viel weniger prägende Rolle im Leben vieler Migrantinnen spielt, als es Feministinnen wie Frau Schwarzer erscheint. Ihre Bücher zum Thema Frauenfeindlichkeit in migrantischen Familien mit schwarz verhangenenen, bedrohlich wirkenden Frauen auf dem Cover sprechen über uns, nicht zu uns. Am Ende müssen wir unsere eigenen Freiheitskämpfe kämpfen. Die Freiheit, die einem jemand anderes erkämpft, ist wahrscheinlich ohnehin nicht viel wert. 

Keine leisen Töne

Frau Schwarzer hat Frauen so lange ihre Stimme geliehen, dass sie diese jetzt nur schwer wieder zurücknehmen kann. So gehen die leisen Töne verloren – und offenbar auch die Bereitschaft, zuzuhören und genau hinzuschauen. Für Frauen wie mich war Frau Schwarzer immer eine weiße Feministin. Wir waren nie wirklich ihre Zielgruppe.
Aber nur, weil man Frau Schwarzer kritisiert, heißt das nicht, dass man ihr Lebenswerk nicht würdigt. Wer ihr Leben jedoch betrachtet, ohne die Widersprüche anzusprechen, tut dieser taffen Frau mit sehr vielen Kanten am Ende auch unrecht.
In der Kultur meines Vaters, über die Frau Schwarzer vor einiger Zeit schrieb, dass nur die Frauen und Kinder Asyl verdient hätten, weil afghanische Männer viel zu häufig Terroristen seien, wünscht man keinen „Happy Birthday“. Man wünscht das viel wohlklingendere "Mögen Sie hundert Jahre alt werden!" Inschallah.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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