Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren"

Schicksal einer zerrissenen Familie

05:53 Minuten
Wüstenlandschaft in Algerien
Wüstenlandschaft in Algerien © picture alliance / blickwinkel; Berlin Verlag
Von Dirk Fuhrig |
Audio herunterladen
Alice Zeniter ist Kind eines algerischen Soldaten, der auf Seiten der Franzosen gekämpft hat. Ausgehend von ihrer eigenen Biographie schlägt sie in „Die Kunst zu verlieren“ einen großen Bogen von der Kolonialzeit zu den heutigen Brüchen in der französischen Gesellschaft.
Mit "Die Kunst zu verlieren" erscheint zum ersten Mal ein Roman von Alice Zeniter auf Deutsch. Die Autorin wurde 1986 im Großraum Paris geboren, ihr Vater ist Kabyle, stammt aus Algerien. Der Roman schaffte es 2017 in die letzte Auswahl zum "Prix Goncourt" und erhielt mehrere andere Literatur-Preise. Sie ist heute eine wichtige Stimme der jüngeren Schriftsteller-Generation in Frankreich.
Die autobiografisch inspirierte Romanhandlung beginnt in Algerien während des Unabhängigkeitskriegs. Nach dessen Ende, 1962, mussten nicht nur die französischen Kolonialisten das Land verlassen, sondern auch die so genannten "Harkis", die mit den Kolonialherren zusammengearbeitet oder in der französischen Armee gedient hatten - zum Teil auch im Ersten oder Zweiten Weltkrieg. Von der neuen algerischen Regierung und den Unabhängigkeitskämpfern wurden sie als Verräter mit dem Tode bedroht, ihre Besitztümer wurden beschlagnahmt.
In Frankreich wurden die Harkis in primitiven Sammelunterkünften untergebracht - vergleichbar den heutigen Flüchtlingslagern. Die Integration fiel ihnen schwer und wurde ihnen staatlicherseits nicht sonderlich erleichtert. Seit den islamistisch motivierten Anschlägen leiden diese Exil-Algerier und teilweise ihre Nachfahren unter noch stärkerer Diskriminierung.

Reise ins Land der Vorfahren

Von dieser tragischen und auch in Frankreich nur unzulänglich bekannten Geschichte berichtet dieser Roman in kühler und doch sehr eindringlicher Weise. Die 30 Jahre alte Erzählerin Naïma - unverkennbar das Alter Ego der Autorin Alice Zeniter - hat von der Vergangenheit ihres Vaters und dessen Familie wenig erfahren. Ihr Vater Hamid spricht nicht über seine Kindheit in Algerien und die demütigenden Erfahrungen im französischen Flüchtlingsheim. Mit den Großeltern ist die Kommunikation aufgrund deren Alters und ihrer eigenen mangelnden Arabischkenntnisse nur eingeschränkt möglich. Im Auftrag der Kunstgalerie, für die sie arbeitet, tritt Naïma schließlich eine Reise ins Land ihrer Vorfahren väterlicherseits an.
Alice Zeniters Roman ist eine äußerst dichte, brillant und fesselnd erzählte Spurensuche. Sie schildert das Schicksal einer zerrissenen Familie, deren Mitglieder als vermeintliche Kollaborateure aus dem Land gejagt wurden und in der neuen Heimat Frankreich nie ankamen. Es gelingt ihr dabei, die vielen Schattierungen dieser post-kolonialen Existenzen plastisch zu machen. Die Kraft dieses Romans entsteht aus der nüchternen Erzählhaltung. Zeniter zeichnet nach, ohne zu urteilen.

Großer Bogen von der Kolonialzeit bis heute

Obwohl sie ihre Protagonistin aus der subjektiven Ich-Perspektive erzählen lässt, ist der Ton überwiegend sachlich, mehr forschend als urteilend. Die Brutalitäten des Kriegs um Algerien tauchen als lakonisch berichtete Fakten auf: die Gemetzel der Kolonialarmee ebenso wie die mitunter unvorstellbaren Grausamkeiten der algerischen Unabhängigkeitskämpfer. Die rassistischen Denkweisen und die ideologisch-nationalistischen oder religiös-fanatischen Konzepte.
Das Buch schlägt einen großen Bogen von der Kolonialzeit zu den heutigen Brüchen in der französischen Gesellschaft. Am Ende weht zwar ganz unvermittelt ein Hauch von Ursprünglichkeits-Kitsch durch die Seiten, wenn die Protagonistin im Dorf der Urgroßeltern eintrifft und dort ihre "Wurzeln" zu finden scheint. Dennoch: Eine meisterhaft konzipierte und brillant geschriebene Groß-Erzählung, die die Spannungen zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers in einen zeitgeschichtlichen Familienroman verdichtet.

Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren"
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Berlin Verlag 2019, 560 Seiten, 25 Euro

Mehr zum Thema