Rausch ohne Kater nur im Paradies
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Schon die Thora spricht vom Alkoholgenuss: Noah pflanzte nach der Sintflut Reben. Jesus verwandelte Wasser in Wein. Doch für Gläubige gelten strenge Regeln: Juden und Christen dürfen in Maßen trinken, Muslime erst im Paradies.
Am Anfang war der Wein, am Anfang der neuen Geschichte Gottes mit den Menschen, die nach der Sintflut beginnt, mit Noah als Stammvater. Der Weinstock: ein Geschenk Gottes, das allerdings auch Gefahren birgt, wie Noah am eigenen Leib erfährt.
Noah aber, der Ackermann, pflanzte als erster einen Weinberg, und da er von dem Wein trank, ward er trunken.
"So besoffen, dass er sein Bewusstsein verliert und nicht mehr weiß, was sein Sohn mit ihm macht", sagt Rabbi Walter Rothschild. Doch von der Reaktion des Sohnes weiß die Genesis zu berichten, das erste Buch der Thora.
Als nun Ham, Kanaans Vater, seines Vaters Blöße sah, sagte er's seinen beiden Brüdern draußen.
Und will so seinen Vater der Lächerlichkeit preisgeben. Die Brüder allerdings bedecken schamhaft die Blöße des Vaters. Noah – der erste in einer Reihe selbstvergessener, berauschter Trinker. Jede Religion kennt sie.
Geheimnisvolle Macht des Weins
"Im Zuge von Religionsentstehung ist sehr gut zu beobachten, dass alles, was auf den Menschen stark einwirkt, dessen Ursache man aber nicht kennt, divinisiert wird, also vergöttlicht", erklärt der katholische Theologe und Religionswissenschaftler Bernhard Uhde vom Institut für Interreligiöse Studien Freiburg. Er nennt Wetterphänomene wie Blitz und Donner als Beispiel und die Wirkung von Rauschmitteln wie Alkohol: "Der Wein kann über den Menschen Macht gewinnen, und er ist deswegen sozusagen in der Nähe des Göttlichen."
In der Welt der Thora gehört der Wein zur Schöpfung. In Maßen bleibt der Wein eine gute Gabe Gottes für die Menschen und eine gute Gabe für das das auserwählte Volk der Israeliten.
Für den Wein wie für die ganze Schöpfung gilt das, was Rabbi Rotschild die "jüdische Norm" nennt: "Im Judentum ist fast alles erlaubt, wenn man das kontrolliert genießt. Essen, sogar der Verzehr von Fleisch, muss kontrolliert passieren, durch eine gewisse Art zu schlachten, beschränkt auf gewisse Tierarten. Sex darf man genießen, aber nur innerhalb der Ehe, um Kinder zu zeugen. Wein darf man trinken, aber man soll einen Segensspruch sagen und dankbar sein."
Gelobt seist Du, Herr der Welt. Du hast die Frucht der Weinreben geschaffen.
So lautet der Kiddush, der Segensspruch, der über den Becher Wein gesprochen wird, zu Beginn des Sabbats und zu Beginn eines jeden Feiertags.
Rauschhaftes Fest des Überlebens
"Es gibt kein Fest ohne Fleisch und Wein", sagt Rabbi Rothschild. "Was ist das Wesen eines guten Feiertags? Man hat gutes Essen und Trinken. Es gibt verschiedene Gebote und Verbote. Und dann kommt die Frage: Welche sind die schwierigsten? Die schwierigsten sind die, die sagen: Du sollst fröhlich sein. Es geht um die Emotion, die Laune, das kann ich nicht so einfach – switch off, switch on, dont worry, be happy – das ist schwierig. Und eine Antwort wäre: ein Rausch, Alkoholrausch."
Dazu rät die jüdische Tradition besonders beim Purim-Fest. "Purim ist eine Karnevalsfeier, die feiert, dass wir überlebt haben, entgegen allen Wahrscheinlichkeiten", erklärt der Rabbi. "Das ganze Reich vom damaligen König Ahasverus war vorbereitet, alle Juden auszulöschen. Und dann wendet sich die Sache, die Juden überleben, und wir sind alle froh."
Angesichts einer solch glücklich Fügung kann man es mit dem Feiern schon mal übertreiben.
"Es gibt im Talmud eine Geschichte", erzählt Rabbi Rothschild: "Zwei Rabbiner treffen an Purim aufeinander, sie trinken zu viel, und einer tötet den anderen. Am nächsten Morgen bereut er es furchtbar, er betet Gott an: 'Was kann ich tun?' Und der Verstorbene kommt wieder zum Leben. Große Erleichterung. Im nächsten Jahr lädt der erste Rabbiner den zweiten wieder zu Purim ein, aber der sagt: 'Danke nein, man kann nicht immer auf solche Wunder vertrauen.'"
Letzte Frage an Rabbi Rothschild. An welchen Rausch kann er sich erinnern? Das war vor ein paar Jahren in seiner englischen Heimat auf einem Gemeindeausflug, erzählt er: "Wir sollten die Gemeindemitglieder zum Tanzen bringen. Wie bringt man mittelalte, bürgerliche, nette, nicht ganz gesunde Menschen zum Tanzen? Ich dachte: Vorher machen wir eine koschere Weinprobe! Und es war sehr erfolgreich, nur dass nach sehr fröhlichen acht Stunden die Leute sowieso nicht mehr tanzen konnten."
Christus verwandelt Wasser zu Wein
Auch von einem anderen, quasi einem Kollegen Rabbi Rothschilds und der beiden Rabbiner aus dem Talmud werden Wundergeschichten erzählt, die sich an Festtagen zugetragen haben sollen. Die Rede ist von Jesus: Im zweiten Kapitel des Johannesevangeliums verwandelt Christus auf der Hochzeit zu Kana Wasser in Wein. Das erste "Zeichen", das vor allem Jesu Vollmacht als Messias demonstrieren soll.
An eine andere Wein-Geschichte wird bis heute Sonntag für Sonntag während der katholischen Messe und in evangelischen Gottesdiensten erinnert. "Ins Neue Testament kommt der Wein durch das Abendmahl, was ja ein Pessachmahl ist", erklärt der Theologe Bernhard Uhde.
Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
So heißt es im Matthäusevangelium. Das Pessachfest, das die Rettung der Israeliten aus Ägypten feiert, mit bestimmten Speisen und vier Bechern Wein, wird hier zum christlichen Ritual.
Feier des Lebens am Ende der Zeit
"Nun setzt der Überlieferung nach Christus sein Blut dem Wein gleich", erklärt Bernhard Uhde. "Warum jetzt Wein und Blut? - weil beides Leben heißt und belebend ist. Und bei Paulus findet sich immer wieder Christus, der den Tod besiegt hat. Insofern ist der Wein auch ein Zeichen für die Überwindung der Endlichkeit und des Todes."
Ich bin der rechte Weinstock.
Das sagt Jesus von sich selbst im Johannesevangelium. Dabei ist das Abendmahl, das Sonntag für Sonntag in den Kirchen gefeiert wird, eine Art Generalprobe für das große himmlische Hochzeitsmahl, von dem das Lukasevangelium und das Matthäusevangelium erzählen. Am Ende aller Zeiten: ein nicht enden wollendes Fest.
Diese Vorstellung existiert auch im Judentum.
Alkoholverbot für streng gläubige Muslime
Ein ganz ähnliches Bild findet sich auch Islam. In der 47. Sure des Korans wird das Paradies so beschrieben:
So seht das Bild des Paradieses, das den Gottesfürchtigen verheißen ist: In diesem fließen Ströme von Wasser, das nie verdirbt, Ströme von Milch, deren Geschmack sich nie ändert; Ströme von Wein, lieblich für die Trinkenden.
Für die trinkenden Gottesfürchtigen im Paradies, wohlgemerkt. Für die frommen Muslime in dieser Welt, gelten, was Alkohol betrifft, die strengsten Regeln im Vergleich zu ihren jüdischen und christlichen Geschwistern.
Außer in der Paradiesbeschreibung werden Alkohol beziehungsweise die Folgen des Alkoholkonsums an drei Stellen im Koran erwähnt, erklärt die islamische Theologin Hamide Mohagheghi: "Die erste Stelle sagt: Wenn ihr berauscht seid, dann sollt ihr euch nicht dem Gebet nähern. Dann an zweiter Stelle heißt es: Im Alkohol gibt es Vorteile und Nachteile, die Nachteile sind aber überwiegend. Und an der dritten Stelle kommt dann: Es ist besser, wenn ihr euch von Alkohol fernhaltet."
Am Ende steht ein Alkoholverbot, das je nach Zeit und Ort pragmatisch gehandhabt wurde und wird.
Aber das ist nur die eine Seite. Zwischen dem Alkoholverbot im Alltag und dem Wein, "Sherab", im Paradies stehen die Mystiker, die Sufis, die in ihren Versen einen ganz besonderen Sherab besingen – so wie Maulana Dschalal Ad-Din Rumi im 13. Jahrhundert:
Auf dem Weg zu Gott sind der Weise und der Verrückte einander gleich. In der Liebe ist der Nahe und der Ferne gleich. Wer von diesem Wein kostet, in dessen Glauben gibt es keinen Unterschied zwischen der Kaaba und dem Götzentempel.
"Diese Erfahrung mit Gott machen und sich selbst vergessen, das ist dann eben ein positiver Rauschzustand", erklärt Hamide Mohagheghi.
Ströme von Wein im Paradies
Ob Rumi und die anderen Mystiker den Rausch, den sie in ihren Gedichten beschreiben, als begeisterte Trinker selbst erfahren haben? Sie selbst hat in ihrem Leben noch nie Alkohol getrunken, sagt Mohagheghi. Aber berauscht sei auch sie schon gewesen:
"Berauscht in dem Sinne, dass ich gesagt habe: Da spüre ich Gott auf eine Art und Weise, die ich täglich nicht tue."
Von Noah, dem ersten Weinbauern bis zum Paradies: In allen drei monotheistischen Religionen existieren Geschichten, Gleichnisse und Regeln zu Alkohol, Wein und Rausch. Und am Ende? Am Ende träumen fromme Juden, Christen und Muslime in ihren Texten von einem Paradies, in dem laut Koran Ströme von Wein fließen, einem großen Hochzeitsmahl, wie ein nicht enden wollender Gemeindeausflug mit koscherer Weinprobe – mit einem Unterschied: Vom Alkohol im Paradies bekommt niemand einen schweren Kopf. Der ewige Rausch am Ende der Welt kennt keinen Kater.