Betreutes Trinken im Pflegeheim
Dreimal täglich ein Glas Wein - im Düsseldorfer Altenzentrum St. Josef dürfen alkoholabhängige Senioren, was in vielen Pflegeheimen offiziell verboten ist: trinken. Unter Aufsicht. Aber das Ziel bleibt Abstinenz.
"Tagesraum, Dart-Scheibe, bisschen zum Ablenken auch, Kicker haben wir vorne stehen." Im Altenzentrum St. Josef sieht es ähnlich aus wie in anderen deutschen Altenheimen. Der Boden glänzt, die Flure sind breit, die Bewohner sitzen vor dem Fernseher im Tagesraum oder gucken aus dem Fenster. Harry Grewe aber steht wartend im Flur vor einer Tür, hinter der sich ein kleiner Vorratsraum befindet.
- "Ich bekomme ein Glas Wein gleich, was ich auch genieße. Wir haben dann unsere Ausgaben pünktlich so um eins, manche um drei und um vier, dann 18 Uhr und 20 Uhr."
- "Und hatten Sie heute schon einen?"
- "Ich hatte mein Glas heute Mittag, und das ist jetzt mein zweites. Ja, muss ja leben, ne! Weißwein ist für zwischendurch, für die Seele."
Harry Grewe weiß nicht so genau, was das eigentlich für ein Weißwein ist, den er gleich bekommt. Eine Karte, von der er aussuchen kann, gibt es nicht. Er hätte die Wahl zwischen Bier, Sekt, Rot- und Weißwein: "Wir haben früher einen anderen gehabt, der war besser. Jetzt müssen wir aber mit dem, was wir bekommen, auch auskommen."
Der Pfleger, der den Wein ausschenkt, guckt nach: Es ist ein trockener Rivaner. Drei Mal am Tag ein Glas schenkt er Herrn Grewe aus. "So Herr Grewe, einmal Ihr Wein!" - "Ich bedanke mich."
Auslöser ist oft eine Lebenskrise
"Das ist kontrolliertes Trinken, das klappt wunderbar. Ich bin jetzt fast zehn Jahre hier. Manchmal hat man so Ausreißer. Da schäme ich mich auch nicht für. Ab und zu hat man so 'Nachdurst'.
Was die Bewohner zwischen den Alkoholausgaben machen, können die Pfleger nicht kontrollieren.
"Kontrollieren dürfen wir nicht", sagt Tino Gaberle, Einrichtungsleiter des Altenzentrums. "Die Bewohner haben ja auch ein Mietverhältnis mit uns, das heißt, das Zimmer ist jetzt erstmal die Wohnung und auch die Schränke. Das ist seine Privatsphäre und da haben wir jetzt, ohne dass der Bewohner seine Zustimmung gibt, nichts drin zu suchen. Das heißt, wir prüfen schon. Wenn der Bewohner sich auffällig verhält, können wir den Alkohol im Blut testen. Das machen wir auch."
Falls Exzesse zunehmen, sollen die Pflegenden ein Gespräch suchen und versuchen zu gucken, ob es aktuell ein Problem gibt.
"Oftmals ist ja diese Alkoholsucht ausgelöst worden durch eine Art Lebenskrise: Verlust von Kindern oder Ehepartnern. Und wenn sich dieser Tag jährt, dann nimmt der Alkoholgenuss auch zu."
Das Ziel heißt Abstinenz
Das Altenzentrum St. Josef hat acht Jahre Erfahrung mit suchtabhängigen Bewohnern. Da es in diesem Bereich vorher kaum Erfahrung oder Forschung gab, wurde das Konzept in der Praxis entwickelt. Anfangs bekommen die Bewohner ungefähr so viel, wie sie gewohnt sind. In Absprache mit Hausarzt und Bewohner wird der Konsum dann langsam heruntergefahren. Ziel ist es, dass die Bewohner ein nicht mehr gesundheitsgefährdendes Maß oder sogar die Abstinenz erreichen.
"Wir streben die Abstinenz an, mit dem Bewohner, das schon. Aber die Schritte dahin sind sehr kleinteilig und langwierig. Das heißt wir brauchen teilweise Jahre, bis es soweit ist. Einige wollen es aber auch nicht. Und das Problem ist, dass diese Menschen zu Hause durchs Raster gefallen sind. Sie verwahrlosen, können sich nicht mehr pflegen und haben keine sozialen Kontakte mehr."
Zurzeit leben im Suchtbereich des Altenzentrums 15 Bewohner, nur drei von ihnen sind Frauen. Im Schnitt sind sie 70 Jahre alt. Im Rest des Altenzentrums sind die Bewohner rund zehn Jahre älter, erzählt Tino Gaberle.
"Sie sind oftmals dadurch, dass sie noch jünger sind, körperlich noch in einem besseren Zustand als der Rest der Bewohner bei uns. Allerdings die psychische und seelische Betreuung – die ist eine etwas größere Herausforderung. Und dadurch haben wir dann dort einen etwas besseren Stellenschlüssel als im Rest des Hauses."
Häufig bleibt Alkoholmissbrauch bei Senioren unentdeckt
Bald soll die Station noch erweitert werden, weitere 19 Betten soll es geben für medikamentenabhängige und methadonabhängige Pflegebedürftige.
"Das Problem ist, dass der Alkoholkonsum bei älteren Menschen in einem normalen Pflegeheim zu 60 Prozent nicht erkannt wird. Das heißt, der riskante Alkoholgebrauch bei älteren Menschen, bei Männern liegt das bei 24 Gramm am Tag, bei Frauen bei 12 Gramm am Tag, der wird oftmals gar nichts erkannt, sondern mit einer Demenzform verwechselt oder mit psychischen Erkrankungen. Deswegen gehen wir hier ganz offen damit um."
Viele der Bewohner ziehen aus anderen Pflegeheimen, einem Krankenhaus oder von der Straße hier ein. Hermann Gierkens ist eine Ausnahme. Er ist von zu Hause eingezogen, nachdem er Frau und Kind verloren hatte.
"Was ich trinke, ist für mich normal", sagt er. Drei Flaschen Bier am Tag ist sein normales Pensum. Dass er auf einer speziellen Suchtstation lebt, darüber möchte er nicht explizit sprechen: "Ich bin hier zufrieden, und ich bin ein Mensch, der sich das Leben so schmiedet, wie er es haben möchte."
Herr Gierkens war früher Abteilungsleiter, er bleibt auf der Station eher für sich. In vielen anderen Pflegeheimen würde man ihm seine drei Bier pro Tag verweigern.