"Alle tanzten auf der Straße"

Von Gerald Beyrodt |
Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich am 8. Mai zum 66. Mal - den Juden, die damals überlebten, bleibt der Tag als Tag der Befreiung, des Überlebens, des Aufatmens in Erinnerung. Zeitzeugen berichten.
Wilhelm Hoffmann öffnet seinen Kleiderschrank im jüdischen Pflegeheim und holt sein Jackett heraus: Es ist mit Orden regelrecht übersät. Wilhelm Hoffmann kämpfte in der Roten Armee gegen die Deutschen.

"Diese Medaille ist schon alt. Das ist für Tapferkeit."

In Berlin wurde Wilhelm Hoffmann geboren – daher der deutsche Name. Anfang der 1930er Jahre flüchteten seine Eltern mit dem Achtjährigen nach Riga. 1941 nahmen die Deutschen die Stadt ein. Erst musste Hoffmann im Ghetto leben, dann im Konzentrationslager. Nach der Befreiung durch die Sowjets steckten ihn diese wiederum ins Lager. Ein in Deutschland geborener Jude habe doch bestimmt mit den Deutschen kollaboriert, so der Vorwurf. Allerdings kam er nach wenigen Wochen frei und wurde in die Rote Armee eingezogen.

"Ich habe gekämpft nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen die Nazis."

In Kurland wurde Wilhelm Hoffmann verwundet und erlebte das Kriegsende in einem Militärhospital in Finnland. 2008 ist er zurückgekommen nach Berlin, in die Stadt, in der er geboren ist. Ein deutscher Pfarrer half dem alten Herrn bei der Rückkehr.

"Meine ganze Hoffnung ist immer gewesen, dass ich nach meine Heimat komme und komm wie ein ehrlicher Bürger. Und ich habe es auch bekommen. Ich bin heute ein deutscher Bürger wie alle anderen Bürger von Deutschland."

Aus Lettland stammt der heute 91-jährige Izchak Kitai. In Riga absolvierte er eine Ausbildung zum Zahntechniker, als die deutschen Truppen immer näher rückten. Izchak Kitai verließ mit vielen anderen jüdischen Flüchtlingen die Stadt.

"Sie haben gewarnt, wer es verlässt nicht, der bekommt die Portion von die Deutschen. Nach drei Tagen sind die in Riga."

In Kasachstan fand Kitai Arbeit in der Bombenproduktion:

"Ich hatte mehr Glück als Verstand, kann man sagen, weil viele hat man genommen in der Armee. Und von die, was waren aus Riga in der Armee, sind fast 90 Prozent gefallen."

Nach dem Krieg kehrte er nach Lettland zurück. 1971 ist er aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert. In Riga habe das Geld, das er verdiente, nicht zum Leben gereicht, erzählt er. Doch als der Zahntechniker in Israel keinen Job fand, überredete ihn ein Freund, nach Deutschland zu kommen. Binnen weniger Tage fand Izchak Kitai Arbeit in einer Zahnarztpraxis:

"Soll ich Ihnen sagen, ein Paradies."

Boris Abramovič Davidovič erinnert sich gut an das Kriegsende, das er in Leningrad erlebt hat, im heutigen St. Petersburg:

"Wir haben es im Radio gehört. Alle tanzten auf der Straße. Alle sangen. Das war ein großer Jubel. Manche haben das bei der Arbeit erfahren, ich in der Schule."

Als die Lehrer in der Schule verkündeten, dass der Krieg vorbei war, weinten sie. Öffentlich wurden Gestapo-Mitarbeiter in Leningrad aufgehängt. Viele Mitschüler sahen sich die grausligen Spektakel an. Dem kleinen Boris verboten es die Eltern.
Was bleibt einem Kind vom Krieg im Gedächtnis? Für Boris Abramovič Davidovič sind es die die Spiele: Seine Mitschüler und er spielten neben Räuber und Gendarm Sowjet und Deutscher. Natürlich wollte niemand Deutscher sein, denn es war klar, was denen passiert.

"Gefangen nehmen, am Baum festbinden - also wir wollten Aggressionen loswerden. Diejenigen, die schwach waren, mussten Deutsche spielen. Die Größeren durften Sowjets sein."

Erst nach dem Krieg erfuhr die Familie, dass Verwandte der Mutter in dem von Deutschen besetzten Gebiet bestialisch ermordet worden waren. Hass auf Deutschland oder die Deutschen verspürte Davidovič trotzdem nie. Als ihn die Tochter und der Schwiegersohn nach Berlin holten, empfand er das nicht als Problem. Deutschland habe sich doch bei den Juden entschuldigt, sagt er – eine solche Entschuldigung wünscht er sich auch von Russland.

Jakob Resnik weiß schon genau, wo er den Tag des Kriegsendes feiern möchte: nämlich in der Russischen Botschaft in Berlin. Vor allem sind der 8. und der 9. Mai für Resnik Tage, an denen er froh ist, dass er überlebt hat. Im Krieg war er Pionier und musste zum Beispiel Minen räumen, um den Panzern den Weg frei zu machen.
Ursprünglich stammt er aus einer Stadt in der Ukraine. Von dort flüchtete seine Familie vor den Deutschen.

"Wir haben schon gesehen deutsche Fallschirm. Aber geht verschiedene Gespräche. Die alte Juden sagen, dass die Deutschen waren gute Menschen, wenn sie waren dort in erster Weltkrieg in der Ukraine. Und jetzt sagt man, sie vernichten die Juden."

Ältere Juden rieten zum Bleiben. Doch Jakob Resniks Vater hörte zum Glück nicht auf diesen Rat. So begab sich die Familie auf eine lange Flucht vor den deutschen Truppen, immer weiter nach Osten. Unterwegs musste die Familie immer wieder Bombenangriffe erleben. Im Dezember 1942 wurde Jakob Resnik für die sowjetische Armee eingezogen. Zunächst war er Soldat in einem Ersatzbataillon, dann an der Front. Das Kriegsende erlebte er in Österreich.

"Als der Krieg vorbei war, selbstverständlich haben sie mir gefreut. Dann noch zwei, drei Tage war keine Ordnung. So wie ein Fest."

Gerhard Baader erlebte den Krieg auf der anderen Seite in Österreich, unter der Herrschaft der Deutschen in einem Arbeitslager. Jeden Tag musste Gerhard Baader um sein Leben fürchten:

"Das war die Situation, die wir generell hatten. Während die anderen gebetet haben, es mögen die Bomben nicht fallen, haben wir gehofft, es mögen noch mehr fallen, damit wir vielleicht eine Chance zum Überleben haben."

Der damals 17-Jährige arbeitete auf einer Baustelle außerhalb des Arbeitslagers, als er vom nahenden Kriegsende hörte.

"Wir haben ja immer auf den Baustellen sogenannte Frontberatungsoffiziere gehabt, und das war ein Leutnant der Luftwaffe, der hat uns gesammelt und was erzählt vom Kampf bis zum Letzten. Und wir standen etwas mit Drohgebärde um ihn herum und sagten: 'Jawohl, Herr Leutnant, Kampf bis zum Letzten.' Darauf stieg er allein auf sein Schnellboot und ist Richtung Ybbs abgehauen."

In der Naziterminologie galt Gerhard Baader als "Mischling ersten Grades": Seine Mutter war jüdisch, sein Vater nicht. Gerhard Baader zog nach der Flucht des Leutnants die Häftlingskleidung aus und trug einen Schlosseranzug, der darunter gewesen war. Dazu nahm er noch einen Schraubenschlüssel in die Hand, um nicht als Häftling erkannt zu werden. In seinen Papieren stand nichts vom Arbeitslager, sondern nur "in Arbeit stehend". So konnte er sich zur Wohnung der Eltern durchschlagen. Dort im Keller erlebte er das Kriegsende.

Ganze vier Jahre Gymnasialbildung hatte Gerhard Baader vor der Schoah gehabt: auf einer eigenen Judenbank im Klassenzimmer. Nach Kriegsende wollte er die Schule fortsetzen, zunächst in seiner alten Klasse:

"Ich kam aus'm Lager, die anderen von der Heimatflak. Und was da jeden Tag los war, noch dazu mit den alten Nazis als Lehrer, das brauche ich nicht näher beschreiben. Ich hab sie jeden Tag mit ihrer Vergangenheit, sprich die alten Lehrer konfrontiert, und mit den anderen hab ich mich jeden Tag gefetzt und wurde dort nur als der KZler tituliert und apostrophiert und behandelt."

Mit anderen früheren Verfolgten ging Baader dann in Überbrückungskurse, die ihn zum Abitur führten. An Auswanderung dachte Gerhard Baader nach dem Krieg nicht, studierte stattdessen und trieb seine Karriere als Medizinhistoriker in Österreich und später in Deutschland voran. Bis heute publiziert er und gibt Seminare. "Medizin im Nationalsozialismus" ist einer seiner Forschungsschwerpunkte.

Alexander Tiplitzki ist im Krieg mehr als 100 Einsätze bei der Luftwaffe der Roten Armee geflogen, erzählt er. Bis sein Geschwader von deutschen Flugzeugen in zwei Teile getrennt wurde. Von seinem schlimmsten Tag spricht er so sachlich, als ob er ein Protokoll schreibt: Seine Maschine wurde abgeschossen, der Schütze starb, Tiplicki selbst erlitt eine Verletzung. Der Kapitän der Maschine ließ Tiplitzki zuerst den Fallschirm benutzen. Tiplitzki überlebte, der Kapitän starb. Weitere Verletzungen zog sich Tiplitzki beim Aufprall auf dem Boden zu. In seiner eigenen Einheit hatte er nie Antisemitismus erlebt, wohl aber auf der Reise ins Landesinnere:

"Jetzt muss ich eine unangenehme Sache über zwei sowjetische Offiziere erzählen. In diesem Zug auf der Fahrt ins Landesinnere gab es viele Verletzte und Verstümmelte, mal ohne Bein, mal ohne Arm. Neben mir lag ein schwer verletzter Offizier, der eindeutig jüdisch aussah, ein Held. Seine Brust war voller Orden und Medaillen. Und diese Banditen wollten ihn zum Spaß vom fahrenden Zug werfen. Ich und russische Kameraden haben uns beim Vorgesetzten beschwert und wurden wir wurden dann mit dem Helden in einen anderen Waggon verlegt. Das hat uns gerettet."

Tiplicki betont, dass er nichts gegen die Deutschen hatte, obwohl er Jude war. Von der Schoah wusste er damals wenig. Mit Scham in der Stimme erzählt er, dass es einen Befehl von Stalin gab, gefangene deutsche Soldaten zu töten:

"Als unser Flughafen angegriffen wurde und das Angreiferflugzeug abgeschossen wurde, retteten sich die deutschen Piloten mit Fallschirmen. Meine Kameraden nahmen sie zuerst gefangen. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie in den Wald zu führen und zu erschießen. Das fand ich empörend."

Nach dem Einsatz für die russische Armee war es Tiplicki bestürzt zu sehen, welche Repressionen Juden nach dem Krieg hinnehmen mussten. 1996 holten ihn seine Kinder nach Deutschland – für Tiplicki ein guter Schritt:

"Wir haben erfahren, wie die Menschen in Deutschland und Israel leben: viel, viel besser als wir. Für mich war es dann egal, ob ich fahre oder bleibe. Das habe ich für meine Kinder und Enkelkinder getan. Ich denke tatsächlich, das war richtig."

Die Erzählungen der Zeitzeugen bleiben noch lange im Gedächtnis. Vor allem denkt man daran, wie nüchtern sie von schrecklichen Erlebnissen berichten. Und dann ist man froh, selbst in glücklicheren Zeiten geboren zu sein.
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